Übergang mit Risiken/Neue Dynamik bei erfolgreicher Transformation. Im dritten Jahr nach der tunesischen Revolution fällt die wirtschaftliche Entwicklung aufgrund der unsicheren politischen Lage und wegen einer stagnierenden europäischen Nachfrage immer noch schwach aus, auch wenn sich hier Fortschritte abzeichnen. Die Chancen, dass im laufenden Jahr 2013 der wichtige Abschluss der Verfassung stattfindet und dann zügig Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abgehalten werden, haben sich allerdings spürbar verbessert.
Im März 2013 fand eine Kabinettsumbildung statt, bei der auch drei unabhängige Minister berufen wurden. Grund hierfür war der erhebliche Popularitätsverlust der konservativ-islamischen Mehrheitspartei Ennahda, vor allem nach der Ermordung des Oppositionspolitikers Chokri Belaid am 6. Februar 2013. Das Attentat hat die Übergangsregierung, bestehend aus der Ennahda und ihren Juniorpartnern CPR und Ettakatol, in eine schwere politische Krise gestürzt und im Land Massenproteste ausgelöst.
Neue Investoren sind weiterhin verunsichert und halten sich zurück. Deutsche, schon im Land etablierte Unternehmen schätzen die Lage ganz anders ein und haben 2012 gut investiert. Die Standortvorteile Tunesiens werden aber erst nach einem erfolgreichen Abschluss des politischen Wandels wieder voll zum Tragen kommen. Dann ist auch mit einer steigenden internen Dynamik und neuen Beteiligungschancen für deutsche Unternehmen zu rechnen. Es ist sicherlich sinnvoll, jetzt schon zu sondieren.
Für europäische Unternehmen hat sich Tunesien seit Mitte der 90er Jahre zu einem in der Region zunehmend bedeutenden Standort entwickelt. Die Firmen schätzen die hohe Flexibilität und Lieferfähigkeit. Deutschland ist nach Frankreich und Italien einer der wichtigsten Investoren in der verarbeitenden Industrie im Land und drittgrößter Handelspartner. Auch auf neuen Feldern besteht großes Interesse an einer Zusammenarbeit. Ende Januar 2013 gaben der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Dr. Philipp Rösler, und der tunesische Minister für Wirtschaft beim Premierministeramt, Ridha Saidi, den Startschuss für die Deutsch-Tunesische Energiepartnerschaft. Schwerpunkte der Kooperation bilden unter anderem der Stromnetzausbau und die Energieforschung sowie die politische Flankierung des Desertec-Vorhabens.
Wettbewerbsfähiger Industriestandort. Zu den wirtschaftlichen Pluspunkten Tunesiens zählen der im regionalen Vergleich hohe Industrialisierungsgrad, ein guter Ausbildungsstand sowie eine im produzierenden Gewerbe hohe Wertschöpfung. Zu der hohen Produktivität bei günstigen Arbeitskosten hat nicht zuletzt die stetige Abwertung des tunesischen Dinars beigetragen, so verlor der tunesische Dinar gegenüber dem Euro seit 2002 rund 33 Prozent. Erfolgsfaktor des Landes ist darüber hinaus die gute verkehrstechnische Anbindung zu den Exporthäfen und weiter nach Europa. Nicht selbstverständlich für Afrika sind die stabile Stromversorgung und ein ausgebautes IT-Netz.
Auch die weitgehenden Steuervergünstigungen für die rein exportorientierten Betriebe – mit oder ohne ausländische Beteiligung – spielen eine wichtige Rolle für die Wettbewerbsfähigkeit des tunesischen Industriestandortes: Neben der Befreiung von Ein- und Ausfuhrzöllen sind die Gewinne von Exportunternehmen zehn Jahre steuerfrei. Zukünftige Regierungen werden eventuell Veränderungen im Investitionsgesetz vornehmen. Eine grundsätzliche Änderung des Exportregimes ist aber Beobachtern zufolge eher nicht zu erwarten. Vielmehr wird es insbesondere darum gehen, Investitionen stärker in die vernachlässigten Regionen des Landes zu lenken.
Tunesiens durch ausländische Direktinvestitionen getriebene exportorientierte Industrialisierung kann in der Tat große Erfolge verbuchen: Bei den Ausfuhren sind die Anteile von Forschung und Entwicklung nach einer Weltbankstudie stetig von 1,5 Prozent im Jahr 1994 auf 6,1 Prozent (2009) gestiegen, während sich die Investitionen in das verarbeitende Gewerbe zwischen 2001 und 2009 verdreifacht haben. Für das Jahr 2010 gibt die tunesische Investitionsbehörde FIPA (The Foreign Investment Promotion Agency) 2.664 Industriebetriebe mit ausländischer Beteiligung und 275.640 Beschäftigten an. Selbst im nach-revolutionären Tunesien bestreitet die verarbeitende Industrie rund 70 Prozent der Exporte.

Zielland für deutsche Investitionen. Gegenwärtig sind nach Angaben der Deutsch-Tunesischen Industrie- und Handelskammer rund 250 rein deutsche Unternehmen oder solche mit deutscher Beteiligung in Tunesien aktiv. Laut FIPA waren 2012 rund 51.700 Mitarbeiter in Betrieben mit deutscher Beteiligung beschäftigt. Davon arbeiteten rund 57 Prozent in der Herstellung von Elektrobauteilen und Kfz-Teilen (hauptsächlich Kabelproduktion) sowie rund 28 Prozent in der Textilindustrie. Die tunesische Investitionsbehörde zählt 111 deutsche Textilun-ternehmen und 45 Hersteller von Elektrik- oder Elektroteilen. Alleine die Automobilzulieferer Dräxelmaier und Leoni beschäftigen rund 22.000 Personen, weitere Kabelfirmen im Land sind SE Bordnetze oder Kromberg & Schubert. Auch der Hersteller von Schaltern und Schaltersystemen Marquardt produziert in Tunesien, während eine Niederlassung der Rieker Guppe Schuhe fertigt. Van Laak produziert mit hohem handwerklichem Aufwand seine Edelhemden.
Trotz Krise: deutsche Investitionen stabil mit Steigerungspotenzial. Die guten Wettbewerbsbedingungen lassen sich an den Zahlen zu den ausländischen Direktinvestitionen selbst für das schwierige Jahr 2012 ablesen. So lagen die deutschen Industrieinvestitionen auch 2012 nach einer Analyse der tunesischen Investitionsbehörde FIPA bei 41,8 Millionen tunesischen Dinar (rund 20,8 Millionen Euro). Schwerpunkt des Engagements deutscher Unternehmen waren vor allem Erweiterungsinvestitionen bei der Kabelherstellung und der Produktion von Elektrobauteilen. Selbst im Revolutionsjahr 2011 konnten die Ausfuhren der sogenannten mechanischen und elektrischen Industrien um knapp 15 Prozent und die Bekleidungsindustrie um 5,6 Prozent zulegen.
Für das nachhaltige Engagement deutscher Unternehmen sprechen nicht nur die 2012 stabilen Investitionen: Die AHK-Tunesien berichtete zudem, dass es bei ihren Mitgliedsunternehmen keine durch die Revolution bedingten Geschäftsaufgaben gab. Laut einer im Oktober 2012 veröffentlichten der AHK stuften 20 Prozent der an der Umfrage beteiligten Mitgliedsunternehmen die Geschäftsentwicklung des laufenden Jahres als positiv ein. Die Prognosen für die kommenden Monate fielen für 25 Prozent der befragten Unternehmen optimistisch aus, 35 Prozent rechneten mit einer gleichbleibenden Entwicklung.
Neue Dynamik bei erfolgreicher Transformation. Durch mehr Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind mehr Freiräume auch für unternehmerische Aktivitäten zu erwarten. Denn insbesondere tunesische Unternehmen waren die Leidtragenden der Bereicherung des Ben-Ali-Clans. So lagen die Investitionen der Privatwirtschaft im Jahr 2004 bei einem nur geringen Anteil von 12,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt. Eine Reihe tunesischer Unternehmen hatte sich aus Angst vor Enteignungen der Herrschenden mit ihrem Engagement zurückgehalten.
Deutsche Unternehmen können sich bei einer Dynamisierung der Wirtschaft vielfältig einbringen. Zu den erfolgversprechenden Branchen für eine Zusammenarbeit zählt auch der Gesundheitssektor: Tunesien hat sich zu einem bedeutendem Zielland für den regionalen Medizintourismus etabliert; Chancen bietet auch der IT-Bereich mit mehr als rund 1.800 IKT-Unternehmen und über 17.500 Beschäftigten. In acht Zentren werden dabei Dienstleistungsaufträge einer Reihe multinationaler Unternehmen bearbeitet. Die IKT-Branche zählt als Geschäftsbereich mit hohem Potenzial. Im Global Competitive Report 2011/2012 schneidet Tunesien mit dem weltweit siebten Platz besonders gut bei der Verfügbarkeit von Ingenieuren ab.
Auch bei der Erschließung der oft schwierigen Nachbarmärkte Libyen und Algerien können Partnerschaften mit tunesischen Unternehmen helfen. Diese verfügen meist über einen qualifizierten Stamm an Ingenieuren und pflegen langjährige Geschäftsbeziehungen in der Region. Günstige naturräumliche Voraussetzungen für den Einsatz erneuerbarer Energien sowie der Bedarf an Beratungsleistungen bei der Förderung von Energieeffizienz und einer Green Economy bilden weitere Chancen zur Zusammenarbeit. Diesem trägt auch die gerade gegründete Deutsch-Tunesische Energiepartnerschaft Rechnung. Neue Konzepte sind bei der Entwicklung des wichtigen Tourismussektors gefragt.
Trotz des im regionalen Vergleich hohen Entwicklungsstandes und guten Wachstumsraten des BIP von durchschnittlich 4,4 Prozent konnte im letzten Jahrzehnt nicht ausreichend Beschäftigung generiert werden. Neben einer Steigerung der Wertschöpfung müssen der benachteiligte Westen und Süden des Landes vermehrt in die Wirtschaftskreisläufe eingebunden werden. Auch eine stärkere Verknüpfung von exportorientierter Wirtschaft und Binnenwirtschaft ist erforderlich. Um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der unter Lohndruck stehenden tunesischen Industriezweige zu halten und zu erhöhen, sind vor allem weitere Anstrengungen bei einer berufsnahen Aus- und Fortbildung notwendig. Hier wird die deutsche Wirtschaft auch zukünftig ihre Stärken durch praxisnahe Ausbildungsprogramme einbringen.
The author studied Mining Engineering at the Clausthal University of Technology. He has been the managing director of Germany Trade and Invest – Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing mbH since 2009. Before that, he assumed positions for the German industry in Dubai and Washington D.C. and led the “North Africa, Near and Middle East” Division of the Federal Ministry of Economics (BMWi) in Berlin.