An Rhein und Ruhr spielt der Industriesektor Chemie eine zentrale
Rolle. Die Branche hat eine doppelte Herausforderung zu meistern:
Sie ist selbst energieintensiv und sie will durch Schlüsseltechnologien
zum Gelingen der Energiewende beitragen.
Die chemische Industrie in NRW ist der Stützpfeiler der deutschen Chemie und die bedeutendste Chemieregion in Europa. Etwa 30 Prozent der deutschen Chemie sind in NRW konzentriert. Heute bedeutet das etwa 100.000 Beschäftigte, die jedes Jahr einen Chemieumsatz von etwa 50 Milliarden Euro erwirtschaften. Auch für den Nachwuchs wird viel am Standort NRW getan. Jedes Jahr kommen ungefähr 2.800 neue Auszubildende hinzu und an 17 Hochschulen kann man mittlerweile in einem Chemie-Studiengang studieren. Zudem gibt es in keinem anderen Bundesland so viele Chemieparks wie in Nordrhein-Westfalen. Hier haben sich bereits zehn solcher Chemieparks entwickelt und stellen Verbundstandorte mit besonderer Interaktion und Vernetzung der dort ansässigen Firmen dar. Wie hat sich unsere Industrie jedoch zu der entwickelt, die sie heute ist?
Ihren Ursprung hatte die Chemie in Nordrhein-Westfalen aus unterschiedlichen Gründen, jedoch war die Kohle in der frühen Entwicklung ein ganz entscheidender Faktor. Im Ruhrgebiet siedelte sich chemische Industrie an, da es eine Vielzahl an Zechen und nachgelagert eine ausgeprägte Kohleindustrie gab. Damit war es nicht verwunderlich, dass viele Produktionen und Verfahren direkt und indirekt mit der Kohle zusammenhingen. Eines der auch heute noch bekannteren Verfahren, die aus dieser Zeit und aus unserer Region hervorgegangen sind, war die Fischer-Tropsch-Synthese und damit die Gewinnung von flüssigen Kohlenwasserstoffen, eine Technologie, die auch heute sehr bedeutend bei der Herstellung von Biokraftstoffen auf Basis nachwachsender Rohstoffe ist. In den 40er und 50er Jahren führten die Oxo-Synthese von Roelen und die Polyethylensynthese von Ziegler zu neuen und ergiebigen Arbeitsgebieten in der chemischen Industrie.
Im Verlauf der Zeit nahmen jedoch Erdöl und Erdgas den Platz der Kohle als vorrangiger Chemierohstoff ein. Das lag zum einen an ihrer chemischen Zusammensetzung – Kohle hat einen viel geringeren Wasserstoffgehalt als Erdöl und ist damit chemischen Umwandlungen viel weniger zugänglich als Erdöl – und zum anderen an den hohen Förderkosten der Kohle. Es hat sich auch zunehmend gezeigt, dass weniger die Nähe zu Rohstoffen wichtig ist als vielmehr ein hoher Stand an Wissenschaft und Forschung, eine große Anzahl von Abnehmern und Weiterverarbeitern im Umfeld, ergänzt durch eine zielbewusste Unternehmensführung. Auch die gute Ausbildung und die hoch qualifizierten Mitarbeiter sind ein wesentliches Erfolgskriterium der Chemie in NRW.
Heutzutage ist die chemische Industrie eine sehr stark in vielen Branchen und Wertschöpfungsketten verzahnte Industrie, die bei weitem nicht mehr nur von einem Rohstoff abhängt. Nordrhein-Westfalen weist dabei als Industriestandort Nummer eins in Deutschland eine beispiellose Vielzahl an Branchen und Wertschöpfungsketten auf. Auch wenn die wirtschaftlichen Verflechtungen immer globaler werden und auch Grenzen häufig nur noch auf der Landkarte existieren, so hat sich trotzdem gezeigt, dass eine räumliche Nähe in industriellen Wertschöpfungsketten nicht zu unterschätzen ist. Einsatzstoffe können so ohne große Transport- und Logistikwege gleich weiterverwendet werden und auch die Wege für persönliche Gespräche sind viel kürzer. Dies ist ein elementarer Vorteil, den NRW im Vergleich zu vielen Standorten aufweist. In den letzten Jahren kam zunehmend auch der Begriff von Netzwerken und Clustern auf. Dies sind häufig Zusammenschlüsse von Partnern, die genau diesen Standortvorteil noch durch weitere Netzwerkarbeit ausbauen wollen.
Die nächste Besonderheit in NRW ist die große Anzahl von Chemie- und Industrieparks. Diese bilden alle bereits genannten Vorteile des Verbundstandortes NRW im Kleinen, wie in einem Mikrokosmos, ab. Hier haben sich – meistens hervorgehend aus ehemaligen Werken einzelner Chemiefirmen – Standorte entwickelt, an denen heutzutage eine Vielzahl von Unternehmen auf engstem Raum eng miteinander verzahnt von den jeweiligen Produkten anderer Chemieparkpartner profitieren. Stoffströme und Prozesse werden so in einer besonderen Effizienz ausgenutzt.
Wenn wir von den beschriebenen Strukturen auf die Rolle und Bedeutung schauen, dann sprechen wir bei der chemischen Industrie oft von einer Enabler-Industrie, einer Industrie, die sich den Megatrends stellt und dabei hilft, Probleme zu lösen. Eine der größten Herausforderungen unserer Zeit ist aktuell sicher die Energiewende. Hier leistet der Chemiestandort NRW auch im Rahmen seiner Chemieparkstandorte wesentliche Beiträge zu deren Gelingen.
Das passiert zum einen über die Werkstoffe, die entwickelt und produziert werden, wie zum Beispiel Produkte für Erneuerbare-Energien-Anlagen, Dämmstoffe oder Materialien zur Kraftstoffeinsparung. Die Effekte dieser Produkte und deren Nutzung wirken sich dann global aus, da diese Produkte auch global genutzt werden. Aber gerade auch die Kraftwerke, die nach dem Prinzip der Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) betrieben werden, leisten einen Beitrag zur Energiewende. Diese Anlagen sind besonders effizient, da sie neben Strom vor allem den für die Produktionsprozesse benötigten Dampf herstellen. Die neuen, geplanten KWK-Anlagen sind flexibel fahrbar und liefern so auch Energie, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint.
Mit Blick auf den historischen Ursprung, die Entwicklung des Standortes und die heutigen Herausforderungen zeigen sich für die chemische Industrie in NRW mehrere wichtige Forderungen: Wir brauchen weiterhin eine exzellente Forschung und Entwicklung. Nur dann können die Chemieunternehmen in modernsten Anlagen die Vielfalt an Erzeugnissen auf den Markt bringen und Innovationen für nachhaltige Entwicklung vorantreiben. Dies muss jedoch neben aller Innovationskraft zu wettbewerbsfähigen Preisen geschehen können. Hier sind Unternehmen, Politik und Gesellschaft gleichermaßen gefragt. Die Unternehmen wollen und müssen auch weiterhin in den Standort investieren und damit ihren Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit leisten.
Die Politik ist gefordert – insbesondere im Rahmen der Energiewende – den Unternehmen einen Rahmen zu bieten, der ihre Produkte auch in Zukunft international konkurrenzfähig macht. Aber wir brauchen auch Akzeptanz für unser Tun. Wir müssen den Menschen klarmachen, dass eine starke Industrie, in der die Chemie als drittgrößte Branche zum Kern zählt, in diesem Land elementar ist. Dazu gehören sicher immer wieder auch Kompromisse, die der eine oder andere Anwohner solcher Areale eingehen muss, damit unsere Industrie auch in Zukunft das chemische Herz Europas sein kann und auch die Bewohner in NRW weiterhin den gewohnten Lebensstandard halten können.
Dr. Günter Hilken
Der Chemiker wurde 1954 geboren und trat 1984 in den Geschäftsbereich Kautschuk der Bayer AG in Dormagen ein. Es folgten leitende Stationen in Sarnia (CAN) und in Akron (USA). Dr. Hilken wurde 2007 in den Vorstand von Bayer MaterialScience berufen. Seit 2011 ist er Vorsitzender der Geschäftsführung der Currenta GmbH & Co. OHG und seit 2014 Vorsitzender des Verbandes der Chemischen Industrie in Nordrhein-Westfalen.