Zur Jahreswende 2010 auf 2011 wurde die Welt von einer Welle landesweiter Unruhen und Demonstrationen in Tunesien überrascht, die am 14. Januar 2011 zur Flucht des Präsidenten Zine Abedine Ben Ali führten. Zehntausende Tunesier hatten gegen die hohe Arbeitslosigkeit sowie für bürgerliche Freiheiten protestiert und sich nicht länger durch Polizei und Geheimdienste einschüchtern lassen. Nach dem Sturz des Regimes wurde eine Übergangsregierung aus parteilosen Experten gebildet, die das Land bis zu den Wahlen zu einer Verfassungsgebenden Nationalversammlung am 23.10.2011 führte. Ziel ist die Verabschiedung einer demokratischen Verfassung sowie Neuwahlen bis Ende 2013.
Noch 2010 hatte Tunesien als stabiles Land mit einer relativ modernen Wirtschafts- und Sozialstruktur gegolten. Ein guter Ausbildungsstand und eine hohe Produktivität machten es attraktiv für ausländische Investoren, Touristen aus aller Welt kamen ins Land. Was hatte zu dem Umsturz geführt, der dann seinerseits den „Arabischen Frühling“ in Ägypten, Libyen und anderen Ländern der Region einleitete? Wie sich bald zeigte, hatte das Regime Ben Alis hinter der nach außen hin modernen Fassade im Inneren eine äußerst repressive Politik gegenüber Andersdenkenden verfolgt und jegliche freie Meinungsäußerung und politische Betätigung der Opposition unterdrückt. Die Begründung, hierdurch sollte insbesondere einer drohenden Machtübernahme der Islamisten vorgebeugt werden, wurde im europäischen Ausland nicht selten mit stillschweigendem Einverständnis aufgenommen.
Nach dem Sturz Ben Alis kehrten zahlreiche Vertreter der tunesischen Opposition aus dem Exil zurück beziehungsweise wurden aus teilweise langjähriger Haft entlassen. Hierzu gehörten sowohl Vertreter der islamisch ausgerichteten „Ennahdha“-Partei als auch liberale Bürgerrechtler und linksorientierte Aktivisten. In kurzer Zeit wurden um die 100 politische Parteien gegründet, die um die 217 Sitze in der Verfassungsgebenden Versammlung konkurrierten. Aus den Wahlen ging die islamische Ennahdha mit 40 Prozent als deutlich stärkste Kraft hervor, sie war für eine Mehrheit aber auf zwei säkulare Koalitionspartner angewiesen. Premierminister der neuen Übergangsregierung wurde Hamadi Jebali, der Generalsekretär von Ennahdha.
Die säkularen Parteien versuchten 2012, ihre zersplitterten Kräfte zu bündeln, um für die kommenden Wahlen Ennahdha eine stärkere Alternative entgegensetzen zu können. Der Premierminister der Übergangsregierung von 2011, Beji Caid Essebsi, gründete die Partei „Nida Tunis“, die zuletzt in den Meinungsumfragen nahe an Ennahdha herankommt. Daneben verbleiben aber noch mehrere kleinere Parteien des liberalen und sozialistischen Spektrums. Insgesamt wurde immer deutlicher, dass die tunesische Gesellschaft in zwei ungefähr gleich starke Gruppen mit unterschiedlichen Vorstellungen von der zukünftigen Gestaltung der Gesellschaft zerfällt.
Auf der einen Seite orientieren sich breite konservative Schichten auf dem Lande, aber auch in den Städten, wieder stärker an den traditionellen Werten und Lebensformen des Islam und finden sich daher durch Ennahdha politisch repräsentiert. Viele Tunesier, vor allem in der Mittelschicht der großen Städte, empfinden diese gesellschaftliche Islamisierung dagegen als Bedrohung ihrer an liberalen europäischen Mustern ausgerichteten Lebensweise und befürchten die schleichende Errichtung eines Gottesstaates. Die frühere Diktatur hatte jegliche Regungen eines politischen Islams systematisch unterdrückt und somit die liberale Lebensform geschützt. Jetzt treten in Tunesien auch radikale Prediger und salafistische Akteure auf, die auch vor gewaltsamen Demonstrationen und Einschüchterungen gegenüber Künstlern und Journalisten nicht zurückschrecken. Wie ist diese Spaltung zu erklären?
Der erste Präsident des unabhängigen Tunesiens, Habib Bourguiba, hatte in den fünfziger und sechziger Jahren eine tiefgreifende kulturelle Modernisierung seines Landes – auch gegen konservativ-islamischen Widerstand – durchgeführt. Seitdem besitzt Tunesien zum Beispiel ein Personenstandsrecht, das den Frauen einen in der arabischen Welt einmalig fortschrittlichen Status zusichert. Nach der Revolution von 2011 wurde jedoch deutlich, dass diese modernen Lebensformen nicht in der gesamten tunesischen Bevölkerung „angekommen“ waren. Während Bourguiba den Islam noch als Hindernis an der Modernisierung zurückdrängen wollte und etwa versucht hatte, das Fasten im Ramadhan zu relativieren, bekennen sich heute immer mehr Tunesier selbstbewusst zu den islamischen Traditionen.
Nach der Revolution konnte die regierende Ennahdha-Partei beweisen, dass sie im Interesse der Einheit des Landes zu Kompromissen bereit ist, und verzichtete ausdrücklich auf eine Verankerung der islamischen Sharia in der neuen Verfassung. Auch einigten sich alle politischen Kräfte in der Nationalversammlung auf die Festschreibung der Frauenrechte. Den säkularen Parteien in der Opposition ging jedoch der Verfassungsprozess nicht schnell genug, sie befürchteten, Ennahdha wolle die kommenden Neuwahlen bewusst verzögern und sich bis dahin fest in wichtigen Macht- und Verwaltungspositionen verankern. Auch warfen sie der Regierung vor, aus Sympathie und Wahltaktik nicht mit der gebotenen Entschlossenheit gegen die gewaltbereiten Salafisten vorzugehen und islamistische Milizen zu dulden, die Vertreter der Opposition einzuschüchtern versuchten.
Der Mord an dem Oppositionspolitiker Choukri Belaid am 06.02.2013 führte zu Massendemonstrationen und Rücktrittsforderungen gegen die Ennahdha-Regierung. Premierminister Jebali versuchte eine neue, aus parteilosen Experten bestehende Regierung zu bilden, um das Vertrauen in der Bevölkerung wieder zu gewinnen, konnte dies aber bei seiner eigenen Partei Ennahdha nicht durchsetzen. Nach seinem Rücktritt am 19.02.2013 bildete der bisherige Innenminister Ali Larayedh eine neue Regierung unter Beteiligung der bisherigen Koalitionspartner, besetzte jedoch wichtige Ministerien wie Inneres, Justiz, Äußeres, Verteidigung, Industrie und Entwicklungskooperation mit parteilosen Experten. Diese Regierung erhielt am 13.03.2013 das Vertrauen von fast zwei Dritteln der Verfassungsgebenden Versammlung.
Nach dieser Regierungskrise, die viel Zeit und von allen Beteiligten viel Energie gefordert hat, müssen sich die Abgeordneten der Verfassungsgebenden Versammlung rasch auf die Verabschiedung der neuen Verfassung sowie des Wahlgesetzes einigen, damit danach alsbald Neuwahlen für ein Parlament und den Staatspräsidenten ausgeschrieben werden können. Auf diese Neuwahlen setzen weite Kreise der Menschen in der Republik Tunesien große Hoffnungen. Erstmals wird es in einem Wahlkampf möglich sein, die einzelnen Parteien nach ihren bisherigen Leistungen zu beurteilen, sei es in der Regierung oder in der Opposition. Daneben werden aber gleichwohl auch traditionelle Überzeugungen eine Rolle spielen, welcher Partei die Wähler ihre Stimme geben.
Angesichts der seit der Revolution von 2011 offenbar gewordenen gesellschaftlichen Spaltung Tunesiens wird es im Sinne einer weiteren friedlichen Entwicklung des Landes entscheidend darauf ankommen, dass beide Seiten, die religiöse und die säkulare, gegenseitige Toleranz aufbringen. Keine Seite darf die andere in grundsätzlichen Fragen der gesellschaftlichen Struktur majorisieren, unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen im zukünftigen Parlament. Dieser gegenseitige Respekt liegt in der Tradition der Tunesier, so dass zu hoffen ist, dass sie den Weg zur Demokratie trotz aller Hindernisse schaffen werden.
Der 1967 in Eutin geborene Autor ist Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Tunis. Er hat Jura und Politische Wissenschaften in Hamburg, Bordeaux und Paris studiert und seine diplomatische Laufbahn 1994 im Auswärtigen Amt in Berlin begonnen. Von 2009 bis 2012 war Plötner Botschafter in Sri Lanka.