Die tunesische Kultur und Mentalität wurden geformt durch eine Art Synthese der verschiedenen punischen, römischen, jüdischen, christlichen, arabischen, muslimischen, türkischen und französischen Kulturen sowie durch den Einfluss der aufeinanderfolgenden Dynastien, die über das Land geherrscht haben. Tunesien war schon immer ein Schmelztiegel der Zivilisationen, und das kulturelle Erbe seiner dreitausendjährigen Geschichte zeugt von einem Land, das sich durch seine exponierte geografische Lage im Mittelmeerraum im Herzen der Expansionsbewegung der großen Zivilisationen des Mare Nostrum befunden hat.
So verdankt die tunesische Mentalität und Kultur viel der Geschichte des Landes, die auf eine mestizische Vergangenheit zurückblickt, in der sich mediterrane Kulturen gegenseitig ablösten. Aufgrund dieses kulturellen Erbes ist der Tunesier grundsätzlich offen, modern, tolerant und der Außenwelt zugewandt. Auch die geografische Lage hat viel dazu beigetragen, eine besondere tunesische Mentalität zu formen. Durch die Zugehörigkeit zu drei Kulturräumen und unterschiedlichen Zivilisationen (arabisch, afrikanisch und mediterran) wird das Land zusätzlich bereichert. Die tunesische Mentalität ist also anderen gegenüber sehr offen. So war das Land im Laufe der verschiedenen geschichtlichen Etappen in der Lage, die kulturellen Besonderheiten, die sich dort nacheinander manifestiert haben, gut zu integrieren. Dieses Erbe bewirkt insbesondere, dass das Kulturschaffen des Landes andalusische und osmanische Einflüsse vermischt und das Bildungssystem geprägt ist von einer Dualität der arabischen und der französischen Sprache, was sich auf die Produktion der tunesischen Literatur auswirkt.


Diese kulturelle Vielfalt in Tunesien, die den tunesischen Geist formt, führt zu einer Kosmopolitisierung der tunesischen Mentalität und lässt ein reiches und dichtes kulturelles Leben entstehen. Unter den Komponenten, die dieses kulturelle Leben bestimmen, gehört der Einfluss des Französischen in Tunesien zweifellos zu den tunesischen Besonderheiten, und noch heute steht Frankreich für eine bestimmte Vorstellung von Modernität in einem Lande, in dem die Eliten seit mehreren Generationen von diesem Ideal besessen sind. Durch die französische Kolonisation konnten eine Staatsherrschaft und eine Bildungspolitik gestärkt werden, die der französischen Kultur nach fünfundsiebzig Jahren des Protektorats einen unumgänglichen Referenzstatus in der zeitgenössischen tunesischen Kultur verliehen haben. Die Philosophie der Aufklärung und die Ideale der Menschenrechte haben sich in Tunesien seit beinah zwei Jahrhunderten über die französische Sprache verbreitet und zur Schaffung von Grundsätzen und Methoden nationalistischer Regierungen geführt.
Bis heute wird die Verwaltungspraxis in Tunesien hauptsächlich von einer zentralisierten Kultur bestimmt, die durch das französische Protektorat errichtet wurde. Die nationalistischen Führungskader, die den Unabhängigkeitskampf Tunesiens geführt haben, haben dieses kulturelle Erbe erhalten, weil sie durch diese Kultur geformt wurden und weil Frankreich der wichtigste internationale Kooperationspartner war. Auch haben der wirtschaftliche Austausch mit Europa und der Massentourismus nach und nach zur Öffnung Tunesiens und zur Annäherung des Landes an Europa beigetragen. Tunesien ist zweifellos eines der am weitesten geöffneten Länder des Maghreb. Die Sozial- und Wirtschaftspolitik Tunesiens hat dazu geführt, dass sich die tunesische Gesellschaft dem westlichen Vorbild angenähert hat.
Dennoch bleiben die Religion in Tunesien und die Verbundenheit der tunesischen Bevölkerung mit ihren arabisch-muslimischen Wurzeln ein wichtiger Faktor in der tunesischen Kultur und Mentalität. In Tunesien predigt der Islam Werte wie Toleranz, Freiheit und Öffnung. Hier koexistieren jüdische Synagogen und christliche Kirchen mit Moscheen. Jüdische und christliche Minderheiten können ihren Glauben frei praktizieren. Dennoch sieht sich dieser Islam der Toleranz und Öffnung in den letzten Jahren durch die Zunahme des radikalen Islamismus in der arabisch-muslimischen Welt bedroht, der auch in Tunesien gewisse Resonanz findet. Dieser Wandel beunruhigt viele Tunesier, da er am Fundament ihrer Gesellschaft rührt, das auf religiöser Toleranz und einer relativ weltlichen Gesetzgebung basiert; zwei Grundsätze, die heutzutage durch radikale Muslime angegriffen werden, da sie diese als mit dem Islam unvereinbar betrachten.
Feststeht, dass die Tunesier in ihrer überwiegenden Mehrheit fest dem eigentlichen tunesischen Islam verbunden bleiben, der auf Toleranz und Öffnung basiert – den eigentlichen Wesenszügen der gesamten tunesischen Bevölkerung.
Daher können die Mentalität und die Kultur der Öffnung und Gemäßigtheit in Tunesien für ausländische und insbesondere deutsche Investoren als Errungenschaften gelten. Tunesien stellt in der arabischen und afrikanischen Welt eine Ausnahme dar aufgrund seiner Geschichte, seiner geografischen, nach Europa hin geöffneten Lage, aufgrund des Status der tunesischen Frauen und der Mentalität der Öffnung und Toleranz, die die tunesische Bevölkerung auszeichnet. Diese kulturelle Besonderheit Tunesiens bietet ausländischen Partnern angemessene und einladende Rahmenbedingungen.
Seit der tunesischen Revolution setzt sich der Freiheitsgeist der politischen Klasse in Tunesien für die Schaffung eines authentischen demokratischen Systems ein. Trotz der Schwierigkeiten, die mit jeder postrevolutionären Periode verbunden sind, kann man heute feststellen, dass sich Tunesien – getreu seiner Kultur der Öffnung – in einem irreversiblen Prozess der Demokratisierung und der Achtung der Pressefreiheit, der Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit befindet, unter Beachtung der Gesetze und der allgemeinen Menschenrechte. In der Überzeugung, dass die politische Transition an das Gelingen der wirtschaftlichen Transition geknüpft ist, setzt die tunesische Regierung alles daran, die heimische Wirtschaft zu stabilisieren, damit diese anschließend entschieden den Weg des Wachstums beschreiten kann.
So lässt die tunesische Wirtschaft bereits Anzeichen für eine Belebung erkennen und überwindet laut Weltbank allmählich die Rezession. Diese Feststellung wurde durch den Notenbankgouverneur bestätigt,
der erklärte, dass Tunesien die Rezession hinter sich gelassen habe und seine Indi-
katoren – insbesondere das Haushalts- und das Zahlungsbilanzdefizit – unter Kontrolle habe. Diese Hoffnung wird bestätigt, da sowohl die nationalen Behörden als auch die internationalen Organisationen einen ansteigenden Wachstumskurs vorhersagen, der 2013 aller Voraussicht nach 4,5 % betragen soll.
Bei den Investitionen unternimmt der tunesische Staat enorme Anstrengungen zum Ausgleich der Schwierigkeiten, wie zum Beispiel durch Investitionsanreize, damit Tunesien auch weiterhin die attraktivste und wettbewerbsfähigste Destination der Region bleibt. In diesem Zusammenhang gilt es zu erwähnen, dass die Regierung gerade ein neues Investitionsförderungsgesetz erarbeitet hat mit dem strategischen Ziel einer regionalen Entwicklung und der Bildung einer diversifizierten Wirtschaft mit entsprechend hoher Wertschöpfung. Gestützt auf die bewährten internationalen Leitlinien der Transparenz und Good Governance streben die tunesischen Behörden gleichzeitig eine Verbesserung des Geschäftsklimas und eine Erhöhung direkter ausländischer Investitionen an. In dem Bestreben, seine Weltoffenheit weiter zu stärken, ist Tunesien der Erklärung über internationale Investitionen und multinationale Unternehmen der OECD beigetreten. Dieser Beitritt zeugt von der Anerkennung der Fortschritte, die Tunesien im Bereich Investitionspolitik erzielt hat, durch die Organisation selbst und ihre Mitgliedsstaaten. Wir sind darüber hinaus der Ansicht, dass Tunesien künftig sehr viel besser positioniert ist, um sich den bewährten internationalen Praktiken anzunähern, und dass der von diesem Beitritt erwartete Aufwind die neuen Ambitionen und Entwicklungsperspektiven des neuen Tunesiens ganz sicher unterstützen wird.
In Tunesien gibt es heute über 3.055 ausländische Unternehmen mit 331.000 Beschäftigten und durchschnittlichen jährlichen ADI-Strömen in den letzten fünf Jahren von etwa 1,3 Milliarden Euro. Der Beitrag ausländischer Investitionen zur Umsetzung der Entwicklungsziele des Landes war bedeutsam, sowohl für die Schaffung von Arbeitsplätzen als auch für die Erhöhung des Exports. So haben die ausländischen Direktinvestitionen die internationale Wettbewerbsfähigkeit Tunesiens maßgeblich beeinflusst und zu einer Steigerung der Produktivität geführt.
Der 1958 geborene Autor ist nach verschiedenen Stationen in Bonn, Brüssel und Tunis seit 2011 Botschafter der Tunesischen Republik. Er hat in Tunis, Moskau und Genf Sprachen und für den diplomatischen Dienst studiert. Seine berufliche Karriere begann er 1982 im Außenministerium in Tunis.