Das kulturelle Umfeld macht nicht nur die Lebensqualität von Städten, Kommunen und Ländern aus, sondern gilt längst auch als Wirtschaftsfaktor für Standorte. Die Kultur- und Kreativwirtschaft verbindet traditionelle Wirtschaftsbereiche, neue Technologien und moderne Kommunikationsformen miteinander. Sie ist hinsichtlich der Leistungsstärke vergleichbar mit Schlüsselbranchen wie Automotive- und Chemieindustrie.
Kunst und Kultur sind von zentraler Bedeutung für die Lebenserfüllung und die Selbstfindung des Menschen. Künstler haben zu allen Zeiten durch selbst gewählte und selbst gestaltete Tätigkeit ein Beispiel für die Fähigkeit zum Leben fernab von Normen, Dogmen und Schablonen gegeben.
Kunst dient der Selbstvergewisserung der Künstler, sie ist aber auch Teil der Selbstreflexion einer Gesellschaft. Künstlerisches Schaffen sichert also nicht nur individuelle, sondern auch soziale Identität. Kunst und Kultur sind wesentlich für die menschliche Verständigung; wie die Religion und die Philosophie vermittelt die Kunst gesellschaftliche Werte, die konstituierend für eine Gemeinschaft sind. Künstlerisches Schaffen fördert zugleich auch Verständnis und Austausch zwischen verschiedenen Kulturen.
Ich bin der Auffassung, dass Kultur die Seele eines Landes ist, die man vernachlässigen, die man verletzen kann, die aber notwendigerweise gepflegt und gehütet werden sollte. Deshalb ist die Kultur ein wesentlicher Standortfaktor für ein Gemeinwesen, auch ein wichtiger, ein besonderer und ein „harter“ Wirtschaftsfaktor.
In Diskussionen, Bewertungen und Entscheidungen treffen Finanzminister, Kämmerer und Unternehmer häufig die Unterscheidung zwischen sogenannten „harten“ und „weichen“ Standortfaktoren einer Region. Im Gegensatz zum produzierenden Gewerbe und zu Dienstleistungsunternehmen werden Kultureinrichtungen als „weicher“ Standortfaktor bezeichnet. Sie gelten somit als ein „Additum“ zu den grundsätzlichen Bedürfnissen des Menschen, die die Wirtschaft zu befriedigen hat, als Dreingabe, die man sich in wirtschaftlich günstigen Zeiten leisten kann, während in wirtschaftlich und finanziell schwierigen Zeiten auf Kunst und Kultur auch verzichtet werden kann.
Die Situation in Deutschland. Die Fakten sprechen eine andere Sprache: In der Europäischen Union arbeiten rund fünf Millionen Erwerbstätige im Kultur- und Kreativsektor.
Die schöpferischen und gestalterischen Menschen sind die Basis der Kultur- und Kreativwirtschaft. Autoren, Filmemacher, Musiker, Architekten, Designer, Künstler oder auch die Entwickler von Computerspielen schaffen künstlerische und kreative Güter und Dienstleistungen. Sie stehen damit für einen dynamischen und vielfältigen Wirtschaftsbereich.
Deutschland liegt im europäischen Vergleich an der Spitze. Die rund eine Million Beschäftigten der Kultur- und Kreativwirtschaft erzielten im Jahr 2009 in 237.000 Unternehmen und selbstständigen Bereichen ein Umsatzvolumen von 131,4 Milliarden Euro und eine gesamtwirtschaftliche Bruttowertschöpfung von etwa 63 Milliarden Euro. Damit ist der Wirtschaftszweig inzwischen fast so wirtschaftsstark wie die Automobilindustrie und leistungskräftiger als die Chemieindustrie. Aus diesem Vergleich wird die Bewertung der Kultur als „weicher Standortfaktor“ als grobe Fehleinschätzung deutlich.
Die hessische Kulturwirtschaft. Das Land Hessen hat im letzten Jahrzehnt den Zusammenhang zwischen Kulturförderung, Kulturwirtschaft und allgemeiner Wirtschaftsentwicklung mehrfach untersucht. So ist der erste Hessische Kulturwirtschaftsbericht Anfang des Jahrtausends gemeinsam zwischen dem Ministerium für Wirtschaft und Kunst und dem Wirtschaftsministerium entstanden. Der zweite Bericht beschäftigte sich mit dem Thema des „Kultursponsoring und Mäzenatentums“. Der dritte vorgelegte Bericht untersuchte die Auswirkungen der Kulturwirtschaft auf Regionen und kommunale Situationen unter dem Titel „Kulturwirtschaft fördern – Stadt entwickeln“. Im Jahr 2010 hat die Hessen Agentur im Auftrag des Wirtschaftsministeriums eine Fortschreibung der Daten mit dem Titel „Kulturwirtschaft in Hessen – Fortschreibung der wichtigsten wirtschaftlichen Kennzahlen“ veröffentlicht.
Die Untersuchungen unterscheiden zwischen sechs Teilmärkten:
• Literatur-, Buch- und
Presseunternehmen
• bildende Kunst (Design und
Kunsthandwerk)
• Filmproduktion, TV- und
Videounternehmen
• kulturelles Erbe (Denkmalschutz)
• Musikwirtschaft
• darstellende Kunst und Unterhaltung.
120.000 Beschäftigte in 22.000 Unternehmen mit einem Umsatz von 19 Milliarden Euro – schwerpunktmäßig im Rhein-Main-Gebiet – zeigen den hohen Anteil der Kulturwirtschaft an der gesamten Wirtschaft Hessens. Nach den Umsatzanteilen sind Literatur-, Buch- und Pressemarkt, die bildende Kunst sowie die Film-, TV- und Videowirtschaft die wichtigsten Teilmärkte der Kulturwirtschaft in Hessen. Einen besonders hohen Rang zeigt der Bereich „kulturelles Erbe“ mit 21.000 Beschäftigten, auch wenn die Umsätze in diesem Teilmarkt geringer ausfallen. Die wirtschaftlichen Wirkungen dieses Wirtschaftsbereiches und die öffentliche Förderung, gerade im Bereich der Denkmalpflege und der historischen Bauunterhaltung, sind beachtlich. Bei denkmalpflegerischen Maßnahmen erzeugt ein Euro öffentlicher Förderung etwa vier bis fünf Euro Wirtschaftskraft mit einer unmittelbaren Wirkung auf die Beschäftigung beim Handwerk, Baugewerbe und Baunebengewerbe. Erhebungen des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung unterstreichen die Bedeutung der Kultur als harter Standortfaktor. In besonderem Maße gilt dies für das Rhein-Main-Gebiet und die Stadt Frankfurt.
Öffentliche Kulturförderung. Kulturpolitik ist das Ergebnis unserer föderalen Geschichte, in der vor allem die Länder und die Städte Kunst- und Kulturförderer waren und als solche in Deutschland diese Aufgabe übernehmen.
Die öffentlichen Finanzierungsverhältnisse der Kultur zu den Gesamthaushalten zeigen, dass die Bundesrepublik Deutschland etwa 12 Prozent leistet, die Länder 43 Prozent und die Gemeinden 45 Prozent. Insgesamt leistet der Staat in Deutschland jährlich rund acht Milliarden Euro zur Förderung von Kunst und Kultur.
Die öffentliche Kulturförderung des Landes Hessen, der Kommunen, der großen Städte und Landkreise ist außerordentlich unterschiedlich.
Gemessen am Gesamthaushalt liegt das Land mit seinen Kulturausgaben unter zwei Prozent, die Stadt Frankfurt finanziert mit nach wie vor zehn Prozent ihres Haushaltes kulturelle Institutionen und Projekte. Die Stadt Darmstadt hat immer noch einen Anteil von etwa sieben Prozent kultureller Förderung am Gesamthaushalt, während Kassel und Wiesbaden nur um 3,5 Prozent ihres Haushaltes für Kulturförderung aufbringen.
Eine bedeutende, möglicherweise auch für den Kulturbereich insgesamt bedenkliche Entwicklung ist, dass die Zahl der Freiberufler sowie der Einzelunternehmen in allen Bereichen der Kulturwirtschaft wächst, während die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stetig abnimmt. Dies gilt vor allen Dingen für die soziokulturellen Zentren, die in bewusster Abkehr von traditionellen Kultureinrichtungen Begegnungsmöglichkeiten in generationenüberschreitenden, interkulturellen und sozialen Projekten bieten. So sagt der neue Bericht der Hessen Agentur von 2010: „Nach wie vor gibt es kaum Vollzeitstellen und die Entlohnung ist in der Regel der Arbeit nicht angemessen.“
Private Kulturförderung. Die Förderung der Kultur ist in Hessen wie in der gesamten Bundesrepublik nicht nur eine öffentliche Aufgabe, sondern wird in der Tradition des Bürgertums in den Städten in Stiftungen, mäzenatischem Tun und Sponsoring gemeinsam mit Unternehmen und öffentlicher Hand geleistet. Mäzenatentum und Sponsoring unterscheiden sich durch die Gegenseitigkeit des Geschäfts. Während sich im Kultursponsoring Unternehmen für kulturelle Aktivitäten einsetzen, um auf einen Imagegewinn abzuzielen, unterstützen die Mäzene künstlerische, wissenschaftliche und soziale Vorhaben, ohne eine direkte Gegenleistung zu verlangen. Unternehmen oder Unternehmerfamilien treten beispielsweise auch als Gründer von privaten und Unternehmensstiftungen auf. Bürger und Unternehmen engagieren sich ehrenamtlich in Bürgerstiftungen oder sind Mitglieder in Fördervereinen. Kreditinstitute unterhalten Stiftungen, betreiben Sponsoring oder geben Spenden. In Deutschland gibt es 17.380 Stiftungen, die über ein Vermögen von rund 100 Milliarden Euro verfügen. In Hessen beschäftigen sich 1.600 Stiftungen mit der Förderung von Kultur, Kunst, Wissenschaft, Sport, Sozialem und Umwelt.
Die ethische, politische und wirtschaftliche Verpflichtung zur Förderung der Kultur in Deutschland und in Hessen ist auf Dauer nur in Kooperation zwischen öffentlicher Förderung, der Kulturwirtschaft, der bürgerschaftlichen Förderung durch Stiftungen und Sponsoring zu gewährleisten. Denn Kultur ist erst in den letzten Jahren als Wirtschaftsfaktor definiert worden, ob als „harter“ oder „weicher“ Standortfaktor. Die Legitimation öffentlicher Kulturförderung ist aber eine andere.
Die Kunst ist die Seele eines Landes und einer Stadt, die man sorgfältig pflegen muss und nicht vernachlässigen darf.
Ruth Wagner wurde 1940 geboren und studierte Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft. Sie ist Vorsitzende des Kulturausschusses der Stadt Darmstadt. Die Autorin war hessische Landtagsabgeordnete ab 1978. Sie war von 2003 bis 2008 als Vizepräsidentin des hessischen Landtages tätig. Von 1999 bis 2003 amtierte Ruth Wagner als hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst sowie als stellvertretende Ministerpräsidentin.