1914 nahmen Frankfurter Bürgerinnen und Bürger 20 Millionen Goldmark in die Hand und gründeten etwas Einmaliges: die erste deutsche Stiftungsuniversität. Aus der Mitte der Stadtgesellschaft heraus entstand so an dem Ort, an dem sich ein halbes Jahrhundert zuvor die erste demokratische Nationalversammlung in Deutschland konstituiert hatte, eine Universität, die ihr Erkenntnisinteresse auf gesellschaftliche Herausforderungen lenkte. Die Nähe zur Bürgerschaft wurde zum Programm. In Frankfurt gab es von Beginn an eigenständige Fakultäten für Wirtschafts- und Sozial- sowie für Naturwissenschaften; gerade in diesen modernen Disziplinen sollte die Universität rasch eine Vorreiterrolle einnehmen. Wissenschaftler und Intellektuelle wie Paul Ehrlich, Franz Oppenheimer, Theodor W. Adorno oder Ludwig Erhard erwarben mit neuen Positionen weltweites Ansehen – beispielhaft steht hierfür die „Frankfurter Schule“ mit der „Kritischen Theorie“.
19 Nobel- und 15 Leibniz-Preisträger studierten, forschten oder lehrten in den vergangenen 100 Jahren an der Goethe-Universität. Einige von ihnen, wie der Chemie-Nobelpreisträger Prof. Hartmut Michel, bringen sich bis heute aktiv in Forschung, Lehre und Nachwuchsförderung ein. Mit 16 Fachbereichen verteilt auf drei Campi – dem Westend als dem geistes- und sozialwissenschaftlichen Zentrum, der Science City am Riedberg und Niederrad, dem Ort der klinischen Medizin – ist die Goethe-Universität Frankfurt eine klassische universitas, die in ihrer disziplinären Vielfalt ideal die Voraussetzungen schafft, um Antworten auf komplexe, globale Fragen der Gesellschaft zu geben. Für transdisziplinäres, innovatives Denken und Handeln jenseits gewohnter Bahnen steht auch der Namensgeber, Johann Wolfgang von Goethe – ein Kind dieser Stadt.
Die Universität und die Welt um sie herum haben sich in den vergangenen 100 Jahren verändert, doch die Grundsätze der Gründung sind heute aktueller denn je. Daran anknüpfend gelang 2008 die Umwandlung von der Landes- zur autonomen Stiftungsuniversität; als Orientierung dafür dienten weltweit erfolgreiche Vorbilder. Seitdem verfügt die Goethe-Universität über eine bundesweit einmalige Autonomie, die vorausschauendes strategisches Handeln ermöglicht. Der neue rechtliche Status eröffnet vielfältige Handlungsspielräume, die von der Berufung der Professoren über die Auswahl der Studierenden bis zur Einrichtung und Schließung von Studiengängen reichen. Gleichzeitig strengt sich die Universität an, auch finanziell unabhängiger von öffentlichen Geldgebern zu werden. So ist es durch ein professionelles Fundraising und stete Alumni-Arbeit gelungen, in wenigen Jahren einen eigenen Kapitalstock von mehr als 160 Millionen Euro aufzubauen.
Die Autonomie ist kein Selbstzweck. Die Goethe-Universität ist mit ihren 45.000 Studierenden, 600 Professoren und 5.000 wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Mitarbeitern heute nicht nur die drittgrößte Hochschule in Deutschland, sondern zählt auch zu den forschungsstärksten Universitäten der Nation. Das spiegelt sich in Leistungsvergleichen wie dem Shanghai-Ranking wider, bei dem die Universität international zu den 150 und national zu den sechs besten Einrichtungen ihrer Art zählt. Deutlich wird das auch an der Summe der wettbewerblich eingeworbenen Fördermittel, die mehr als ein Drittel des universitären Gesamtetats ausmachen. So ist es seit 2006 gelungen, zehn große Forschungszentren in Frankfurt zu etablieren. Dazu zählen zwei nationale Gesundheitszentren für Herz-Kreislauf- und Krebs-Forschung, fünf große Projekte der Landesexzellenzinitiative LOEWE sowie die drei in der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern eingeworbenen Cluster: „Dynamik molekularer Komplexe“, „Kardiopulmonales System“ und „die Herausbildung normativer Ordnungen“.
Die zehn großen Forschungszentren zeigen, dass sich an der Goethe-Universität Spitzenforschung in der Breite durchgesetzt hat; auch sind die Wissenschaftler der ursprünglichen Leitidee treu geblieben, Lösungen auf drängende Fragen der Gegenwart zu finden. Alle zehn Zentren arbeiten dabei mit außeruniversitären Partnern zusammen. Denn die Rhein-Main-Region ist neben München und Berlin mit sechs Max-Planck-, drei Leibniz- und einem Helmholtz-Zentrum ein starker Wissenschaftsstandort; die Goethe-Universität will mit diesen Partnern aus Gründen der Qualitätssteigerung sowie der internationalen Sichtbarkeit noch enger zusammenarbeiten. Dabei gilt sie schon heute unter Forschenden und Studierenden außerhalb Deutschlands als Top-Adresse: Allein 2013 kamen rund 40 Prozent der neuberufenen Professoren aus dem Ausland, unter den Studierenden weisen 24 Prozent einen Migrationshintergrund auf.
Die Goethe-Universität will in den nächsten Jahren Kooperationen regional, national und international ausbauen; dabei soll das Netzwerk mit ihren sieben strategischen Auslandspartnern verstärkt werden, darunter führenden Universitäten wie Toronto, Birmingham oder Tel Aviv. Gerade in der Forschung sind große Verbundprojekte nurmehr multilateral zu verwirklichen. Von einer internationalen Öffnung der Universität soll aber auch die Lehre profitieren und mit forschungsnahen, englischsprachigen Angeboten sowie Stipendien noch attraktiver für exzellente Studierende werden. Denn selbst wenn wegen der stark steigenden Studierendenzahlen zurzeit der Fokus der Ausbildung noch auf dem Bachelor liegt, so ist mittelfristig das Ziel, sich als Forschungsuniversität stärker auf die Master- und Doktorandenausbildung zu konzentrieren.
Dass die Goethe-Universität schon jetzt in der Lehre als „Ort der Innovation“ wahrgenommen wird, zeigen eine Reihe wichtiger Initiativen, darunter das mit Fördermitteln des Bundes finanzierte Programm „Starker Start ins Studium“, die Schaffung 40 zusätzlicher Professoren-Stellen oder auch die räumliche Entlastung der Lehrenden und Lernenden durch den Neubau eines Seminarhauses. Generell finden Lehre und Forschung in modernen Gebäuden statt; dafür nahm das Land Hessen in den vergangenen Jahren viel Geld in die Hand.
Der Campus Westend hat heute den Ruf, der schönste in Europa zu sein; dort erstreckt sich hinter dem ehemaligen Verwaltungssitz der IG Farben das weitläufige Areal mit seinen preisgekrönten Neubauten. Hier öffnet sich die Universität auch bewusst der Frankfurter Bürgerschaft in Form zahlreicher Veranstaltungen. Denn gegründet von Bürgern für Bürger nimmt die Goethe-Universität ihren allgemeinen Bildungsauftrag ernst. Als Sinnbild für einen vorurteilsfreien, offenen Dialog steht übrigens am zentralen Campusplatz der Body of Knowledge. Die acht Meter hohe Plastik setzt sich aus den Schriftzeichen der verschiedensten Sprachen der Welt zusammen und bringt damit die Komplexität des Wissens in der globalen Gesellschaft zum Ausdruck.
Der Autor ist seit 2009 Präsident der Goethe Universität Frankfurt am Main. Er studierte in Bonn und München Chemie und Medizin. 1985 habilitierte er in klinischer Biochemie und wurde 1987 zum Professor in München berufen. 1989 wechselte er an die Universität Mainz, 1999 nach Frankfurt. 2006-2009 war er Direktor des Exzellenzclusters „Makromolekulare Komplexe“ und wurde ebenfalls 2006 zum Vizepräsidenten der Universität gewählt.