Wissenschaftler der Universität Mainz lassen sich von Naturstoffen inspirieren und erforschen neue Substanzen und nachhaltige Produktionsverfahren.
Die belebte Natur stellt eine geradezu unerschöpfliche Quelle der Inspiration für organische Chemiker dar. Jahrmilliarden der Evolution haben komplexe Moleküle hervorgebracht, die oft eine wohldefinierte Rolle in dem sie produzierenden Organismus spielen, indem sie ihren Produzenten etwa vor Infektionen oder vor Fressfeinden schützen. Naturstoffe und von ihnen abgeleitete oder inspirierte Verbindungen haben sich nicht nur in der Pharmaindustrie als überdurchschnittlich erfolgreich erwiesen, sie finden auch Anwendung im Pflanzenschutz oder für die Haltbarmachung von Lebensmitteln.
Im Rahmen des Naturstoffzentrums Rheinland-Pfalz werden an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz bislang unbekannte Naturstoffe in ihrer detaillierten molekularen Struktur mit modernen spektroskopischen Verfahren aufgeklärt. Diese Informationen können den Ausgangspunkt für die chemische Synthese darstellen, da die aus der Natur isolierten Substanzen oftmals nicht in ausreichender Menge zu gewinnen sind. In Kombination mit Kenntnissen über die biologische Wirkung der Substanzen seitens der Kooperationspartner wie etwa dem Institut für Biotechnologie und Wirkstoff-Forschung (IBWF) können erste sogenannte Struktur-Wirkungs-Beziehungen aufgestellt werden, die manchmal schon die Identifizierung für die Wirksamkeit essenzieller Strukturelemente erlauben. Zudem lässt die Molekülstruktur oft Rückschlüsse darauf zu, wie der produzierende Organismus die Substanz erzeugt hat.
Neben der Synthese des eigentlichen Naturstoffes werden auch verwandte Verbindungen auf chemischem Wege erzeugt, die wiederum auf ihre biologische Wirksamkeit getestet werden. Gleichzeitig müssen die Synthesechemiker neue Verfahren entwickeln, um die oftmals komplizierten Molekülarchitekturen der Naturstoffe nachbauen zu können, so dass die Natur gleich in mehrfacher Hinsicht als Quelle der Inspiration dient.
Das Themengebiet der Wirkstoffsuche in und mit der Natur verbindet den Bereich der Chemie mit der Pharmazie, der Medizin und der Biologie und ist von hoher Attraktivität für die Studenten. Es konnten schon zahlreiche neue Wirkprinzipien erarbeitet werden, etwa im Hinblick auf entzündungshemmende Naturstoffe aus Pilzen. Im Bereich Pflanzenschutz wurden bereits mehrere Patente gemeinsam mit der Industrie angemeldet.
Einen anderen interessanten Aspekt der Naturstoffe brachte die von der Carl-Zeiss-Stiftung geförderte Initiative Chemische Biomedizin am Institut für Organische Chemie und der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität (Prof. Roland Stauber) ein, die in einem ähnlichen Themenbereich angesiedelt ist. Hierbei ergaben sich aus der Suche nach neuen Wirkstoffen aus der Natur innovative Ansätze zur alternativen Nutzung natürlicher Rohstoffe, die zur Synthese pharmazeutischer Wirkstoffe, aber auch für die ressourcenschonende Herstellung von Werk- und Effektstoffen dienen können. In Kooperation mit Forschern aus den USA und Südafrika werden diese Ansätze nun in Mainz bearbeitet.Während die traditionelle Synthesechemie fast ausschließlich fossile Kohlenstoffquellen wie Erdöl, Erdgas oder Steinkohle nutzt, bietet Holz als nachwachsender Rohstoff ein bislang kaum genutztes Potenzial. Eine wichtige Gruppe von Verbindungen, die sogenannten Aromaten, werden heute in der Regel auf petrochemischem Wege aus Erdöl erzeugt, sind aber in einer abgewandelten Form auch im Holz von Nadel- und Laubbäumen enthalten. Erdölprodukte können zwar in diese Form umgewandelt werden, dies erfordert aber die recht aufwändige erneute Einführung von Strukturelementen, die im Laufe von Jahrmillionen aus der früheren Biomasse verschwunden sind. Genau diese besondere, den Holzinhaltsstoffen ähnliche Form ist es jedoch, die die strukturelle Grundlage vieler Naturstoffe darstellt.
So gelang den Mainzer Forschern um Professor Till Opatz in Zusammenarbeit mit einem Forscherteam um Professor A. J. Arduengo III, von der Universität Tuscaloosa, Alabama (USA), im vergangenen Jahr, die erste Synthese des potenziell gegen Tumorzellen wirksamen Naturstoffes Ilicifolin B. Anders als sonst üblich, wurde bei der Synthese nicht mehr auf die fossilen Ausgangsmaterialien zurückgegriffen, sondern das Molekülgerüst dieses Naturstoffes aus einem südamerikanischen Strauch wurde ausschließlich unter Verwendung holzbasierter und damit nachwachsender Rohstoffe aufgebaut. Gleiches gelang für ein mit dem Morphin verwandtes Schmerzmittel, das sonst über Opium aus dem Schlafmohn gewonnen wird.
Dieser neue Ansatz, der in Anlehnung an den Begriff Petrochemie als „Xylochemie“ (greich. xylos = Holz) bezeichnet werden kann, ermöglicht aber noch weitere Verfahren. Jüngst konnten, abermals in enger Zusammenarbeit zwischen Mainz und Tuscaloosa, lichtechte Textilfarbstoffe sowie Kunststoffe erzeugt werden, die auf xylochemischem Wege und ohne Verwendung fossiler Ressourcen erhalten wurden. Xylochemische Ansätze schlagen somit eine Brücke aus der Naturstoffchemie in den Bereich der Materialwissenschaften und eröffnen zahlreiche weitere Anwendungsfelder. So könnte etwa die großtechnische Produktion zentraler Komponenten von Autolacken ein lohnendes nächstes Ziel sein, ebenso wie die Herstellung von Stabilisatoren, Weichmachern oder optischen Aufhellern. Damit könnten neue Möglichkeiten zur umweltschonenden und CO2-neutralen Produktion erschlossen werden, die für die heimische Wirtschaft attraktiv sind.Prof. Dr. Till Opatz
Till Opatz (Jahrgang 1973) hat in Frankfurt/M. Chemie studiert und 2001 an der Johannes Gutenberg-Universität promoviert. Nach einem Auslandsaufenthalt in den Niederlanden fertigte er seine Habilitation in Mainz an und wechselte 2007 zunächst auf eine Professur nach Hamburg, bevor er 2010 wieder nach Mainz zurückkehrte. Seitdem leitet er das Naturstoffzentrum Rheinland-Pfalz.