Die Rückseite des Mondes ist besser bekannt als die Tiefen unserer Ozeane. Wir kennen zwar die Ausmaße der Ozeane (etwa 71 Prozent der Erdoberfläche sind wasserbedeckt) und die Küstenlinien, doch unter der Wasseroberfläche ist vieles unbekannt. Die Morphologie des Meeresbodens ist in vielen Bereichen genauso fraglich wie seine Zusammensetzung oder die Lebewesen und Rohstoffe der Tiefsee. Ein Großteil der Menschheit siedelt in küstennahen Regionen und ist dort marinen Naturgefahren ausgesetzt. Das Meer stellt für viele Menschen eine wichtige Nahrungsquelle dar und ein Großteil des Welthandels wird über das Meer abgewickelt. Hieraus ergeben sich Chancen und Risiken, die es abzuwägen gilt, insbesondere weil die Ozeane für die Zukunft der Menschheit von entscheidender Bedeutung sein werden.
Schleswig-Holstein – ein idealer Standort für exzellente Meeresforschung
Die Chancen, die das Meer uns bietet, und die Risiken, die das Meer für uns birgt, auszuloten und zu bewerten, ist Aufgabe der Meeresforschung in Schleswig-Holstein, in Deutschland und weltweit.
Die Lage zwischen den Meeren macht Schleswig-Holstein schon ganz natürlicherweise zu einem bevorzugten Standort für die Meeresforschung. Das 2004 gegründete Leibniz-Institut für Meereswissenschaften (IFM-GEOMAR) in Kiel ist mit seinem Forschungsspektrum, das von der Geologie des Tiefseebodens bis zur Atmosphäre über dem Meer reicht und sich den Fragen des Klimawandels, der marinen Ökosysteme, der Meeresrohstoffe und der marinen Naturgefahren widmet, einzigartig in Deutschland.

Die Tauchroboter AUV ABYSS und ROV KIEL 6000 können in Tiefen bis zu 6.000 Metern vordringen. Das bemannte Forschungstauchboot Jago ermöglicht Wissenschaftlern einen direkten Blick auf den Meeresboden. Lander-Systeme führen Langzeitbeobachtungen in der Tiefsee durch.
In enger Zusammenarbeit mit Einrichtungen wie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, dem GKSS Forschungszentrum Geesthacht und dem Forschungs- und Technologiezentrum Westküste (FTZ) sowie im nationalen Verbund unter dem Dach des Konsortiums Deutsche Meeresforschung (KDM) ist das IFM-GEOMAR innerhalb von nur fünf Jahren neben den nationalen Meeresforschungszentren in Frankreich und Großbritannien zu einer der drei europaweit führenden Forschungseinrichtungen gewachsen.
Mit etwa 700 Mitarbeitern, einem Jahreshaushalt von 60 Millionen Euro, einer umfangreichen Infrastruktur mit vier Forschungsschiffen, Tieftauchrobotern und dem einzigen deutschen Forschungstauchboot entwickelt das Institut eine erhebliche Außenwirkung, die weit über die Landesgrenzen von Schleswig-Holstein hinausgeht.
Hinzu kommen aber auch herausragende wissenschaftliche Leistungen, die sich in dem Exzellenzcluster „Ozean der Zukunft“ und zwei Sonderforschungsbereichen der Deutschen Forschungsgemeinschaft widerspiegeln. Davon profitieren auch viele kleine und mittelständische Unternehmen, die innovative Meerestechnik für die Meeresforschung entwickeln.
Chancen und Risiken aus dem Meer
Zu den Hoffnungen und Chancen, die das Meer birgt, zählen beispielsweise marine Wirkstoffe, die aus Bakterien und anderen Bewohnern der Ozeane gewonnen werden und ein hohes Potenzial für die Entwicklung neuer Medikamente haben. Hier liefert die Grundlagenforschung im Kieler Wirkstoffzentrum (KiWiZ) am IFM-GEOMAR die Basis für eine mögliche wirtschaftliche Nutzung.
Bisher nicht genutzte Energiereserven, die am Meeresboden schlummern, gebunden in Methan- beziehungsweise Gashydrat, könnten eine zukünftige Energiequelle darstellen. Das IFM-GEOMAR hatte bereits in den 1990er Jahren mit der Erforschung der Nutzung von marinen Methanhydraten begonnen und ist nun das weltweit führende Institut auf diesem Gebiet. In Rahmen eines neuen Großforschungsvorhabens mit zahlreichen Partnern aus Wissenschaft, Industrie und Wirtschaft soll in den kommenden Jahren untersucht werden, ob eine Nutzung des im Methanhydrat enthaltenen Erdgases bei gleichzeitiger Speicherung von Kohlendioxid möglich ist. So werden die zentralen Fragen des Klimaschutzes und der Energieversorgung miteinander kombiniert.
Neben fossilen Energieträgern gehen auch viele Erzlagerstätten zur Neige. Schleswig-holsteinische Meeresforscher sind weltweit anerkannte Experten in der Untersuchung und Bewertung von Metall- und Edelmetallerz-Vorkommen, die im Bereich der submarinen Gebirge der Weltozeane auftreten und deren Abbau möglicherweise schon bald beginnen kann. Aber auch hier gibt es enormen Forschungsbedarf bezüglich einer umweltverträglichen wirtschaftlichen Nutzung.
Auf der Seite der Risiken liegen der Klimawandel und seine Wirkung auf die Ozeane. Hier sind unter anderem der Meeresspiegelanstieg sowie häufigere und stärkere Sturmfluten zu nennen. Aber auch die Versauerung des Ozeanwassers bedingt durch den Klimawandel bedroht die Lebensbedingungen für viele Meeresbewohner, insbesondere Korallen. Daneben sind viele Kleinstlebewesen bis hin zu den Großfischen, die bereits unter der massiven Überfischung leiden, durch die Versauerung der Ozeane gefährdet. Dabei ist gerade die Nahrungsquelle Meer für die Menschheit von elementarer Bedeutung. Schon heute übersteigt die Nachfrage nach Fisch das Angebot.
Die Meere sind in weiten Gebieten leer gefischt, Fischzucht beziehungsweise Aquakulturanlagen erlangen im Vergleich zur klassischen Fischerei eine immer größer werdende wirtschaftliche Bedeutung. IFM-GEOMAR-Meeresforscher helfen, hier ökologischere Methoden zu entwickeln und geben den Entscheidungsträgern Handlungsempfehlungen für ein nachhaltiges Fischerei-Management und Aquakulturen, die auf geschlossenen Kreislaufanlagen an Land basieren.
Neben Rohstoffen und ökologischer Vielfalt des größten Lebensraums auf der Erde birgt das Meer auch Naturgefahren, zu denen neben den schon angesprochenen Stürmen natürlich auch die durch Seebeben oder Hangrutschungen ausgelösten Tsunamis gehören. Auch hier treffen sich Wissenschaft und Wirtschaft. Gemeinsam werden unter Einsatz modernster Technologien neue Beobachtungssysteme entwickelt, die zum Beispiel mittels Frühwarnsystemen helfen, das Leben für Menschen in gefährdeten Küstenregionen sicherer zu machen.
Exzellente Forschung benötigt moderne Infrastruktur
Im Bereich der Meeresforschung gehen Wissenschaft und Wirtschaft in vielen Bereichen Hand in Hand. Auf der einen Seite ermöglichen neue wissenschaftliche Erkenntnisse häufig zukünftigen wirtschaftlichen Nutzen und andererseits benötigt die Wissenschaft auch moderne Technologien, die von einer innovativen Wirtschaft, wie der Deutschlands, entwickelt werden können. Hierzu zählen unter anderem bemannte und unbemannte Tauchfahrzeuge. Das IFM-GEOMAR ist auch hier führend. Es betreibt neben dem bemannten Forschungstauchboot JAGO den ferngesteuerten Tiefseeroboter KIEL 6000 und das autonom operierende, unbemannte Unterwasserfahrzeug ABYSS. Während JAGO bis in 400 Meter Tiefe einsetzbar ist, können die beiden Roboter bis in Tiefen von 6.000 Metern vorstoßen. Neben vier eigenen Forschungsschiffen, die vom IFM-GEOMAR betrieben werden, ist das Institut auch Hauptnutzer der global agierenden deutschen Forschungsschiffe Sonne, Meteor und Merian. Damit verfügt das IFM-GEOMAR über eine innovative technische Infrastruktur, die die Grundlage für international konkurrenzfähige Spitzenforschung darstellt.
Der Autor studierte Geologie und Mineralogie, 1986 Promotion, 1988 bis 1989 Postdoc an der University of Toronto, 1992 Habilitation, 1993 bis 2003 Professor an der TU Freiberg. Seit 2004 Direktor des Leibniz-Instituts für Meereswissenschaften. Er ist Leibniz-Preisträger der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Maritimer Botschafter der Europäischen Kommission sowie Maritimer Koordinator des Landes Schleswig-Holstein.