Geisteswissenschaften vermitteln zwischen Kulturen, sie reflektieren und bieten Orientierung über Werte und Entwicklungen in der Gesellschaft. Sie können Orientierungsdefizite und Modernisierungsbrüche erkennen und analysieren. Geisteswissenschaften erschaffen Sinnzusammenhänge aus den Erkenntnissen der Naturwissenschaften und sind somit unverzichtbarer Bestandteil der modernen Wissensgesellschaft.
Die Geisteswissenschaften befassen sich mit geistig-kulturellen Schöpfungen wie Wissenschaft und Bildung, Kunst und Religion, auch Staat und Recht. Dabei ist mit dem Ausdruck Geist nicht nur der individuelle Geist gemeint, sondern der sogenannte objektive Geist im Hegel’schen Sinn, der sich in überindividuellen Sphären und Instanzen wie zum Beispiel dem Recht manifestiert.
Der Begriff kam 1849 als Lehnübersetzung von „moral science“ (John Stuart Mill) auf, erfuhr jedoch seine heutige Bedeutung erst durch Wilhelm Dilthey. Er definierte die Geisteswissenschaften aus der Kontrastierung zu den Naturwissenschaften. Letztere tragen zum Erkennen der Welt bei, während erstere Methoden des Verstehens entwickeln und anwenden, wie sie seit Schleiermacher als Hermeneutik bezeichnet werden. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch die Gegenüberstellung der „zwei Kulturen“ von C. P. Snow aus dem Jahre 1959.
In der Tat unterscheiden sich die Wahrheitszugänge von Geistes- und Naturwissenschaften zum Teil erheblich. Nicht nur ihre Gegenstände, Methoden, Kommunikations- und Kooperationsweisen, Präsentations- und Organisationsformen sind anders beschaffen als in den Naturwissenschaften, sondern auch ihre Legitimationsmechanismen. Den Sinn der Geisteswissenschaften erkennt man oft nicht direkt, ihre Nützlichkeit erweist sich erst in längeren Zeitbezügen und ist viel weniger unmittelbar zu greifen als es in der naturwissenschaftlichen Forschung der Fall ist. Das Stichwort Bildung ist dafür das anschaulichste Beispiel. Die größten fachkulturellen Unterschiede ergeben sich gegenüber der anwendungsbezogenen oder experimentellen Forschung, während in der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung und Theorieentwicklung die Übergänge zu geisteswissenschaftlichen Arbeitsformen fließend sind – und zwar vor allem, wenn es um reine Erkenntnis geht, deren Nutzanwendung zunächst nicht im Focus des Forschungsinteresses steht.
Die heutigen Geisteswissenschaften beanspruchen nicht mehr die alte Leitfunktion der Theologie und der Philosophie für die Weltdeutung, wohl aber eine leitende Vermittlungsfunktion innerhalb der Wissenschaften. Denn unverändert besteht die Aufgabe der Geisteswissenschaften darin, Grundbegriffe vom Guten und Schlechten, vom Vernünftigen und vom Schönen (und damit stets natürlich auch vom jeweiligen Gegenteil) zu entwickeln, um so dem Einzelnen Orientierung zu ermöglichen und das gesellschaftliche Bewusstsein darüber – mit allen Kontroversen und Brüchen – aufrecht zu halten und fortzuentwickeln. Letztlich geht es um Grundwerte der Humanität, die uns kulturhistorisch übermittelt und zur Pflege beziehungsweise Weiterentwicklung überantwortet sind. Im Kontext der Globalisierung, religiöser, kultureller und ethnischer Vielfalt, ist das eine wichtige Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben der Menschen, für Rationalität und Gerechtigkeit, für sozialen Ausgleich, aber auch zum Beispiel für nachhaltiges Wirtschaften und schonenden Ressourcenumgang. Keinen geringeren Nutzen haben die Geisteswissenschaften.
Um ihre Funktion zu illustrieren: Aufgabe der historischen Wissenschaften ist es zum Beispiel, Ereignisse und Verläufe aus der Vergangenheit beziehungsweise die daran geknüpften Narrative zu analysieren, um ihre Fortwirkung auf die Gegenwart, also auf unsere Wertsysteme und Wahrnehmungsmuster, zu verstehen. Denken wir hier nur – um zwei aktuelle Anlässe zu nennen – an das 500-jährige Jubiläum der Reformation im Jahr 2017 (www.luther2017.de) oder an die 100-jährige Wiederkehr des Ausbruchs des I. Weltkrieges – zwei Jahrestage, die bis heute in erheblichem Ausmaß geisteswissenschaftliches Denken herausfordern und befruchten. Hier wird Erkenntnis erwartet, die Aufklärung und Entschlüsselung oft rätselhafter Geschehnisse leistet, mit denen sich die Menschen teils über Jahrhunderte beschäftigen und die – als Erzählungen, als Narrative – in ihre Alltagskultur Eingang gefunden haben. Zeugnisse davon sind in Büchern, Gemälden, Skulpturen oder Kompositionen niedergelegt, deren Rezeption sich – bei konstanten Quellen – fortwährend verändert. Denn jede Generation hat andere und neue Fragen an die Vergangenheit, die damit stetig in die Gegenwart konvertiert wird. Dieser nicht abschließbare Prozess wird befruchtet und begleitet durch die Geisteswissenschaften, seien sie historiografischer, philosophischer, philologischer oder theologischer Provenienz.
Um weitere Beispiele zu nennen: In der Archäologie oder in der Altertumsforschung ist es wichtig, einen Fund nicht nur zu datieren, zu analysieren und zu klassifizieren, sondern stets auch die Brille mit zu thematisieren, durch die man ihn betrachtet. Das ist die Brille des zeitgeschichtlichen Augenblicks, der jedoch als Sediment bereits vorhandenen Wissens, historisch vermittelter Deutungen, konventioneller Blickwinkel und zudem von Hoffnungen, Erwartungen und Projektionen Wirkung entfaltet. Damit kommt die Rezeptionsgeschichte eines Objekts oder Themas mit ins Spiel. Aus diesem Grund sind für die Archäologie kulturwissenschaftliche Perspektiven von hohem Erkenntniswert.
Ein anderes Kooperationsmuster wird an der Humboldt-Universität im Exzellenzcluster „Bild Wissen Gestaltung“ praktiziert. Überall in den experimentellen Naturwissenschaften oder in der Medizin werden heute technische Bilder erzeugt und betrachtet. Hierbei ist die Frage, was dabei tatsächlich gesehen wird und was nicht, von besonderer kulturwissenschaftlicher Relevanz. Jede Seh-Erwartung schränkt paradoxerweise das Sehen ein; das Bewusstsein über diesen Umstand indessen weitet es wieder aus. Die entsprechende Sensibilisierung lässt sich einüben, indem ein Experte oder eine Expertin aus der Kunst- und Bildgeschichte den Naturforschern über die Schulter schaut und sie auf Dinge aufmerksam macht, die dem spezialisierten (und damit nicht selten eingeengten) Blick schnell entgehen können. Aus einer „Ikonografie des technischen Bildes“ ergeben sich dann – aufgeklärte Offenheit zwischen den Disziplinen vorausgesetzt – neue, produktive Einsichten und Perspektiven, die nur an der Schnittstelle zwischen geistes- und naturwissenschaftlicher Betrachtung möglich sind.
Die Geisteswissenschaften werden sich heute vor allem dann erfolgreich weiterentwickeln, wenn sie sich nicht selbst abgrenzen, sondern mit den Naturwissenschaften kooperieren. Dies gilt natürlich ebenso in der Umkehrung. Es gibt heute ohnehin kaum mehr eine wissenschaftliche Frage oder Problemstellung, die noch aus dem Zentrum einer singulären Disziplin heraus vollständig erfasst und sinnvoll bearbeitet werden kann. Zudem ist auch kaum noch eine wissenschaftliche Entdeckung oder Lösung vorstellbar, die nicht der philosophischen oder ethischen Reflexion bedarf. Eine solche Reflexion kann nicht erst im Anschluss an die wissenschaftliche Arbeit einsetzen oder als notwendiges Beiwerk von Forschung und Lehre gelten, sondern ist als deren integrativer Bestandteil zu begreifen und zu leisten. Das setzt interdisziplinäre Kooperation voraus.
Nicht weniger wichtig in unserer komplexen Wirklichkeit sind die Sozialwissenschaften. Sie liefern über die Beobachtung und Analyse menschlichen Verhaltens Erklärungsmuster für Handlungsweisen von Gruppen, wechselseitige Abhängigkeiten, interessengeleiteten Bewegungen und kollektive Strategien, damit umzugehen. Wissen darüber ist unverzichtbar, um die Einheit in der Vielfalt zu erkennen, Diversität zu respektieren und Handlungsmodelle zu entwerfen, die einen friedlichen Interessenausgleich auf der Welt ermöglichen.
Der Autor war von 1992 bis 2010 Professor für Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sowie von 1993 bis 1996 Dekan des Fachbereiches Erziehungswissenschaften. Von 2000 bis 2002 war er als Direk-tor der Franckeschen Stiftungen zu Halle tätig. Bevor er 2002 zum Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt berufen wurde. Seit 2010 ist Prof. Olbertz Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin.