Wie gelingt es uns, unsere Umwelt wahrzunehmen und mit ihr zu interagieren?
Mit diesen grundsätzlichen Fragen beschäftigen sich Wissenschaftler am
Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik. Sie erforschen die Signal- und Informationsverarbeitung im Gehirn und untersuchen, welche Prozesse
notwendig sind, um aus den vielfältigen Sinnesinformationen ein konsistentes
Bild unserer Umwelt und das dazu passende Verhalten zu erzeugen.
Die zarten, rosafarbenen Blüten, die grünen Blätter, der lange Stängel mit den spitzen Stacheln und der einzigartige Geruch lassen uns eindeutig eine Rose als Rose erkennen. Multisensorisch, also mit vielen Sinnen, nehmen wir dieses Stück Außenwelt auf und bilden beziehungsweise festigen ein mentales Abbild von ihm. Eine Aufgabe, die das Gehirn permanent zu bewältigen hat und die es auch mit Leichtigkeit erfüllt. Doch wie gelingt uns diese Verinnerlichung von Dingen, die außerhalb unseres Körpers existieren? Wie nehmen wir die Welt wahr und wie gelingt es uns weiter, mit ihr zu interagieren? Mit diesen Fragen beschäftigen sich am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik drei Abteilungen und verschiedene Forschungsgruppen. Anhand ganz unterschiedlicher Ansätze und Methoden versuchen sie, die Informationsverarbeitung im Gehirn zu entschlüsseln.
Dem Denken gewissermaßen zuschauen können Wissenschaftler der Hochfeld-Magnetresonanz-Abteilung, denn mittels der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) werden die Aktivitäten im Gehirn sichtbar gemacht. Mit dem institutseigenen 9,4-Tesla-Magnetresonanztomografen, einem der stärksten Human-MRT-Systeme der Welt, können die zurzeit detailreichsten Gehirnscans erstellt werden. Der Fokus der Abteilung Physiologie kognitiver Prozesse liegt auf der Erforschung der neuronalen Strukturen. Durch die Zusammenführung aus Experimenten der Psychophysik, der Elektrophysiologie und der MRT wird hier analysiert, an welchen Stellen im Gehirn sensorische Wahrnehmung kodiert und verarbeitet wird. Damit kann die dreidimensionale Karte, die in den vergangenen Jahrzehnten über unser Gehirn angefertigt wurde, immer weiter verfeinert werden. In meiner Abteilung Wahrnehmung, Kognition und Handlung liegt der Ansatz wiederum darin, mithilfe von isolierten Wahrnehmungsexperimenten die Vorgehensweise des Gehirns nachvollziehen zu können. Fragen der Objekt- und Gesichtserkennung, der sozialen Interaktion und Raumkognition werden damit beantwortet. Außerdem arbeiten wir daran, wie die Erkenntnisse, die wir aus der menschlichen Wahrnehmung gezogen haben, in die Gestaltung und Verbesserung von intelligenten Robotern überführt werden können. Diese Fragestellungen untersuchen wir sowohl anhand von Psychophysik-Experimenten als auch mit Methoden aus der System- und Kontrolltheorie, der Computer-Vision, der Virtuellen Realität (VR) und mithilfe neuartiger Bewegungssimulatoren.
Für die Erfassung vieler Dinge ist eine multisensorische Wahrnehmung, wie sie einleitend beschrieben wird, nicht zwingend notwendig. Wir können und müssen Dinge sogar oftmals nur mit einem Sinn, beispielsweise rein visuell, wahrnehmen. Dabei wird vielfach unterschätzt, welche Meisterleistung unser Gehirn allein bei dieser Aufgabe vollbringen muss. Denn schon die Interpretation eines einzelnen Sinnesreizes erfordert die Verrechnung verschiedener Informationsquellen – wir sprechen hierbei von multimodaler Informationsverarbeitung. Bei unserem Sehsystem sind dies beispielsweise die Informationen, die uns Schattierungen, Textur-Verläufe und unsere Möglichkeit des Stereosehens bieten. Dieser Prozess gelingt uns auch deshalb, weil das Gehirn zur eindeutigen Wahrnehmung immer Erfahrungen und Vorwissen über die Beschaffenheit der Welt einkalkuliert. Erst diese clevere Miteinbeziehung von angeborenem und erlerntem Vorwissen in den Wahrnehmungsprozess ermöglicht es, aus mehrdeutigen oder fehlenden Informationen eine eindeutige Interpretation der Außenwelt zu schaffen. Intuitiv besitzen wir sogar ein Gespür für Wahrscheinlichkeiten, das uns hilft, unlogische Interpretationen der Welt zu verwerfen.
Schon bei der Untersuchung lediglich eines Sinnes bedarf es eines ausgeklügelten Experiments, um die Integration verschiedener Signale herauszufinden. Nun gilt unser Interesse auch der Verrechnung verschiedener Sinne unter realitätsnahen Bedingungen, beispielsweise des Gleichgewichtssinns und des visuellen Sinns. Da sich in der Realität Wahrnehmung und Handlung ständig beeinflussen, ist es unser Ziel, Experimente zu gestalten, bei denen jede Reaktion Einfluss auf den Reiz hat. Um all dem gerecht zu werden, sind häufig sehr spezielle Versuchsaufbauten notwendig.
Die relativ junge Methode der Virtuellen Realität ermöglicht erstmals die Durchführung solcher Experimente unter exakt kontrollierbaren Reizbedingungen in einem geschlossenen Kreislauf von Wahrnehmung und Handlung. Die Forschung in VR bietet die Möglichkeit, Interaktionszyklen präzise dokumentieren und gezielt manipulieren zu können. Dies lässt Rückschlüsse zu, welchen Einfluss Reizveränderungen sowohl auf die Wahrnehmung als auch auf das daraus resultierende Verhalten haben. Um dieses Potenzial der VR-Technologie optimal auszuschöpfen, entstand auf dem Tübinger Max-Planck-Campus das Cyberneum, ein Gebäude mit rund 1.200 Quadratmetern Nutzfläche, das – wie der Name schon vermuten lässt – Platz für Neues im Bereich Virtueller Realität bietet. Es muss sonderbar anmuten, dass Forschung in virtuellen Umgebungen ganz reale Quadrat-, ja sogar Kubikmeter benötigt. Doch dies ist tatsächlich der Fall, denn es gilt eine Menge modernster Technik unterzubringen. Das Cyberneum beherbergt unter anderem zwei Bewegungssimulatoren, Tracking-Systeme und riesige Laufbänder. Letztere bieten die Möglichkeit, dass virtuell projizierte Welten ganz real und vor allem uneingeschränkt begehbar werden. Die Aufgabe der vielen Kameras der Tracking-Systeme ist es, die Position des sich bewegenden Probanden zu jedem Zeitpunkt zu bestimmen und diese in Relation zur virtuell gesehenen Welt zu setzen. Ein Bewegungssimulator auf Basis eines Industrieroboters erlaubt beispielsweise zusammen mit einem Display, die gefühlte von der gesehenen Eigenbewegung zu entkoppeln. So können tatsächlich diese verschiedenen Sinne getrennt voneinander betrachtet werden und Hinweise liefern, wie die eingehenden Informationen in unserem Gehirn repräsentiert werden. Gleichzeitig ist unser Ziel, die menschliche Wahrnehmung und Handlungsweise nachzubilden und diese Modelle zu testen, um beispielsweise bei Fahr- und Flugsimulationen eine wahrscheinliche Reaktion vorherzusagen. Erste Ergebnisse zeigen schon jetzt, dass diese Methode zu Verbesserungen von Bewegungssimulatoren in Form von authentisch dargestellten Flugszenarien beiträgt, was zu einem realistischeren Training und folglich zu mehr Sicherheit für Piloten und Passagiere führt. Im Untergeschoss des Gebäudes lernen zudem noch einige Quadcopter – das sind Flugobjekte vergleichbar mit Modell-Hubschraubern – eigenständig und kollisionsfrei zu fliegen. Die Zielsetzung ist hierbei, Menschen und Robotern die sichere Interaktion in gemeinsam genutzten Umgebungen zu ermöglichen.
Unsere Arbeit basiert auf der Vision, dass in der Zukunft Mensch und Maschine in gemeinsamen Lebensräumen nahtlos zusammenwirken und interagierende Maschinen Teil unseres täglichen Lebens werden. Das menschliche Gehirn hält schon reichhaltige strategische Lösungsmethoden für verschiedenste Problemstellungen bereit und bietet uns Möglichkeiten, die wir wahrnehmen wollen – für einen Zugang zu einer Welt von morgen.
Der 1950 geborene Autor ist Direktor der Abteilung Wahrnehmung, Kognition und Handlung des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik in Tübingen. Heinrich Bülthoff ist Spezialist für Objekt- und Gesichtserkennung, sensomotorische Integration, Raumkognition sowie für Verhalten in virtuellen Umgebungen.