Leider ist die gesetzliche Rente in Deutschland nicht ganz so sicher, wie dies der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm einst versprochen hat. Die Achillesverse des gesetzlichen Umlageverfahrens ist der demographische Wandel: Bei steigender Lebenserwartung und niedrigen Geburtenraten verändert sich das Verhältnis zwischen denjenigen, die Beiträge leisten und denjenigen, die Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung empfangen. Im Extremfall müsste in wenigen Jahrzehnten jeder Beitragszahler einen Rentner finanzieren, was das System der Umlagefinanzierung klar überfordern führen würde.
Angesichts dieser Entwicklungen wächst die Notwendigkeit, neben der staatlichen Rente auch privat Geld für das Alter zurückzulegen. Als Anlageform bietet sich hierfür die Aktie an, die insbesondere im Vergleich zu festverzinslichen Wertpapieren in der langen Frist ein deutlich höheres Renditepotenzial ausweist. So zeigt das Renditedreieck des Deutschen Aktieninstituts, das die Aktienrendite deutscher Blues-Chip-Unternehmen von 1955 bis heute abbildet, eine Durchschnittsrendite von 9 Prozent pro Jahr für einen zehnjährigen Anlagehorizont. Dies ist ein jährlicher Renditevorsprung von zwei Prozentpunkten gegenüber Bundeswertpapieren. Dank des Zinseszinseffektes bei der Wiederanlage lässt sich mit Aktien bei gleicher Sparleistung also ein bedeutend höheres Endvermögen erreichen – in der langen, für die Altersvorsorge kennzeichnenden Frist mitteln sich die kurzfristig das Bild der Aktie prägenden Kursausschläge heraus.
Trotz dieser Vorteile ist die Bereitschaft deutscher Privatanleger, in Aktien zu investieren, im internationalen Vergleich gering. Nach Erhebungen des Deutschen Aktieninstituts beträgt die Zahl der Aktionäre und Aktienfondsbesitzer in Deutschland im Jahr 2012 9,5 Mio. – dies sind 14,7 Prozent der Bevölkerung über 14 Jahren. Auch wenn in diesen Zahlen die knapp drei Millionen Riestersparer, die kontinuierlich in einen Investmentfonds einzahlen, nicht explizit berücksichtigt sind, ist die Aktionärsquote in anderen Ländern viel höher. So investiert beispielsweise in den USA jeder zweite Bürger direkt oder über die Fondsanlage in Aktien.
Doch woran liegt es, dass die Deutschen kein Volk von Aktionären sind und dementsprechend die Aktie im Rahmen der privaten Altersvorsorge eine untergeordnete Rolle spielt?
Ein Grund ist sicherlich die Mentalität deutscher Privatanleger, eher konservativ zu sparen, was sich auch in der Vermögensstruktur widerspiegelt. Im Jahr 2012 waren 40 Prozent des privaten Vermögens in Bargeld und Einlagen sowie zu weiteren 30 Prozent in Versicherungen investiert. Mit fünf Prozent spielen Aktien nur eine untergeordnete Rolle. Zwar haben die Deutschen um die Jahrtausendwende parallel zum Boom am Neuen Markt ihren Aktienanteil auf fast 15 Prozent ausgeweitet. Das Platzen der „Dotcom-Blase“ war aber mit einem regelrechten Exodus der Anleger aus der Aktie verbunden, der im Jahr 2008 durch die Subprime-Krise nochmals verschärft wurde.
Leider haben die Erfahrungen mit dem Neuen Markt dazu geführt, dass viele Anleger seitdem nicht mehr an den Aktienmarkt zurückgekehrt sind. Dabei sind Aktien relativ einfache Instrumente, deren Risiken durch wenige Grundregeln beherrschbar sind. Hierzu zählt primär eine Analyse der Tragfähigkeit des Geschäftsmodells des Unternehmens. Zudem sollten „nicht alle Eier in einen Korb gelegt werden“: eine breite Diversifikation ist Grundgebot für jede verantwortliche Aktienanlage.
Vor diesem Hintergrund ist die ökonomische, speziell die finanzielle Allgemeinbildung zu Grundregeln der Geldanlage und Vermögensbildung essentiell. Ziel aller Maßnahmen zur Verbesserung der ökonomischen Bildung muss der mündige Anleger sein, der mit seiner Produktkompetenz die von den Emittenten und Intermediären bereitgestellten Informationen sinnvoll und kritisch nutzt. Dies würde auch überbordende Regeln des Anlegerschutzes überflüssig machen, die wenig nützen, aber der Aktienanlage schaden.
Ein Beispiel für solche Regeln ist die seit Sommer 2011 geltende Verpflichtung der Banken, im Kundengespräch bei einer Kaufempfehlung für jede Einzelaktie ein Produktinformationsblatt bereitstellen zu müssen. Dieser Beipackzettel soll dem Privatanleger kurz und verständlich die Funktionsweise eines Finanzprodukts erklären. So sinnvoll ein Produktinformationsblatt für komplexe Anlageprodukte ist, so groß ist der Schaden für die Aktienanlage.
Eine Studie des Deutschen Aktieninstituts zeigt, dass die Pflicht, ein Produktinformationsblatt für jede Einzelaktie zu erstellen, zahlreiche Banken aus der Aktienberatung verdrängt hat. Fast jede zweite Bank in Deutschland hat den Umfang der Aktienberatung reduziert; rund 15 Prozent der Umfrageteilnehmer haben die Aktienberatung sogar vollständig eingestellt. Insbesondere für kleinere Institute, deren Kundenstamm überschaubar ist, ist der Aufwand zur Bereitstellung von Produktinformationsblättern zu Einzelaktien offensichtlich unverhältnismäßig hoch. Deshalb kann fast jede vierte Bank mit einer Bilanzsumme von bis zu 500 Millionen Euro keine Aktien mehr empfehlen. Das Anlageuniversum ihrer Kunden wird damit erheblich eingeschränkt. Das ist kein Anlegerschutz, sondern eine Einschränkung der Wahlmöglichkeiten des Anlegers.
Eine Überarbeitung der Regelungen zum Produktinformationsblatt ist daher dringend notwendig, um die Flucht der Banken aus der Aktienberatung zu stoppen. Einzelaktien sollten ganz von dieser Anforderung ausgenommen werden. Ein Produktinformationsblatt für die Anlageform Aktie insgesamt ist sachlich völlig ausreichend. Ansonsten können viele Banken nicht mehr ihre Aufgabe wahrnehmen, ihren Kunden im Rahmen der Anlageberatung einen Überblick über alle seriösen Anlageformen zu geben. Dies schließt ein, auch über die Aktie als Instrument der privaten Altersvorsorge zu informieren und über die Grundregeln zum Umgang mit dieser Anlageform aufzuklären. Außerdem sind für nahezu jede Aktie aussagefähige Analystenberichte im Internet oder als gedruckte Version verfügbar.
Ein weiteres regulatorisches Hindernis für die Aktienanlage ist die doppelte Besteuerung von Aktienerträgen, die mit der Einführung der Abgeltungsteuer 2009 deutlich verschärft wurde. Nachdem von 100 Euro Gewinn auf Unternehmensebene bereits rund 30 Euro Körperschaft- und Gewerbesteuer an den Fiskus abgeführt werden, erfolgt für die verbleibenden 70 Euro auf Anlegerebene ein weiterer Zugriff durch Abgeltungsteuer sowie Solidaritätszuschlag und gegebenenfalls Kirchensteuer. Insgesamt addiert sich die steuerliche Gesamtbelastung von Aktienerträgen auf nahezu 50 Prozent. Im Vergleich dazu werden Erträge aus Fremdkapital, beispielsweise Tagesgeld, Sparbuch oder Rentenfonds, lediglich mit rund 28 Prozent besteuert.
Eine Vermögenspolitik, in der Aktien eine bedeutendere Rolle als Instrument der privaten Altersvorsorge spielen sollen, muss Aktien mit festverzinslichen Wertpapieren steuerlich gleichstellen. Als Ausgleich für die Doppelbesteuerung gab es immerhin bis Ende 2008 noch das Halbeinkünfteverfahren, und Kursgewinne waren nach zwölfmonatiger Haltedauer der Aktie steuerfrei. Eine in das System der Abgeltungsteuer passende Alternative hierzu wäre eine – zumindest teilweise – Steuerbefreiung auf Anlegerebene. Das wäre keine Subvention und kein Privileg, sondern nur der Abbau einer bestehenden und ungerechtfertigten Benachteiligung der Aktienanlage. Das Deutsche Aktieninstitut hat hierzu bereits konkrete Vorschläge vorgelegt.
Die Belegschaftsaktie ist ein weiteres Instrument der Vermögenspolitik, das in Deutschland jedoch noch immer nur unzureichend genutzt wird. Die steuerliche Förderung ist allein von ihrer Höhe her eher als symbolisch zu betrachten. Eine deutliche Steigerung des steuer- und sozialabgabenfrei möglichen Rabatts auf zum Beispiel 1.000 Euro jährlich wäre nicht nur eine sinnvolle, sondern eine überfällige Maßnahme.
Schließlich muss sich auch das System der betrieblichen Altersvorsorge stärker dem Kapitalmarkt öffnen. Immerhin betragen die Pensionsverpflichtungen der DAX-Unternehmen rund 310 Milliarden Euro. Zu einem wesentlichen Teil werden diese Ansprüche als Rückstellungen in den Unternehmensbilanzen abgebildet. Würden diese Rückstellungen verstärkt auf externe Kapitalmarktteilnehmer wie Pensionsfonds oder Lebensversicherer ausgelagert, könnten diese die Gelder stärker in Aktien anlegen und damit dem Aktienmarkt insgesamt Schwung verleihen. Allerdings hängt die Bereitschaft der institutionellen Anleger zur Aktienanlage stark von den institutionellen Voraussetzungen ab. Beispielsweise ist zu befürchten, dass die relativ hohen Risikogewichte für Aktien im Standardansatz von Solvency II die Attraktivität der Aktienanlage für Versicherer verringern wird.
Derzeit werden Aktie und Kapitalmarkt in Teilen von Politik und Gesellschaft mehr als Problem denn als Lösung angesehen. Das ist falsch und schädlich. Gerade die Aktie kann als langfristig orientierte und rentable Sachwertanlage wesentlich zur Lösung gesellschaftlicher Probleme wie zum Beispiel den Herausforderungen des demographischen Wandels für die Altersvorsorge beitragen. Diese Chance gilt es zu nutzen. Deshalb ist die Stärkung der Aktienanlage als Instrument der privaten Altersvorsorge in Zeiten nachlassender Leistungsfähigkeit des gesetzlichen Umlageverfahrens eine vermögenspolitische Notwendigkeit. Hierfür bedarf es sowohl einer besseren ökonomischen Bildung, die dem Leitbild des mündigen Anlegers genügt, als auch einer Beendigung der regulatorischen und steuerlichen Diskriminierung der Aktienanlage.
Der Autor ist nach mehr als 35 Jahren Managementerfahrung, davon 20 Jahre als CFO, selbständiger Unternehmensberater. Bis 2013 war der Honorarprofessor der TU Dortmund und Ehrendoktor der European Business School Präsident des Deutschen Aktieninstituts e.V., dessen Wissenschaftlicher Beirat er angehört.