Wir können heute davon ausgehen, dass bereits vor 4.000 Jahren in der Bronzezeit im mitteldeutschen Raum Materialforschung im Sinne gezielter Einstellung von Eigenschaften in Werkstoffen und Werkstücken stattfand. Mit der Zusammenarbeit des Jenaer Physikprofessors Ernst Abbe und dem Glasforscher Otto Schott über Lithiumgläser, die Otto Schott 1882 nach Jena führte, beginnt aber das Zeitalter der Materialwissenschaft in Thüringen im heutigen Sinne.
Das Otto-Schott-Institut für Materialforschung, das 2013 aus der Fusion zweier Institute der FriedrichSchiller-Universität in Jena entstand, führt die moderne Materialforschung in Thüringen fort. Heute wird das vollständige Portfolio der Materialforschung in allen Werkstoffklassen aktiv bearbeitet.
Das Institut ist aufgebaut aus den Lehrstühlen für Glaschemie 1 und 2, für Metallische Werkstoffe, für Materialwissenschaft, und aus den Professuren für Oberflächen- und Grenzflächentechnologien, für Modellieren und Simulation sowie für Mechanik der funktionellen Materialien. Dazu kommt die Juniorprofessur für Struktur-/Eigenschaftsbeziehungen in Gläsern und eine gemeinsam von der Friedrich-Schiller-Universität und dem Institut für Photonische Technologien berufene Professur für Faseroptik. Insgesamt sind am Institut ca. 100 Mitarbeiter beschäftigt, davon deutlich mehr als die Hälfte über von externen Geldgebern eingeworbene Drittmittel.
Das Otto-Schott-Institut beschäftigt sich einerseits mit grundlegenden Fragestellungen der Materialwissenschaft mit dem Ziel, Mechanismen auf die Spur zu kommen, die für bestimmte Materialeigenschaften verantwortlich sind. Dabei werden funktionelle und strukturelle Werkstoffe gleichermaßen behandelt. Beispiele für solche Fragestellungen sind etwa der Einfluss von Druckeffekten auf die Struktur von Glas, die Herstellbarkeit keramischer Nanopartikel durch Verdampfen im Laserstrahl, die Funktionsweise von Reibung und Verschleiß auf atomarer Ebene oder der Einfluss der Oberflächenrauheit auf die Adhäsion von Bakterien. Aus den genannten Beispielen wird aber auch unmittelbar deutlich, dass der Weg von der Grundlage in die Anwendung in der Materialwissenschaft äußerst kurz ist: Mit optimierter Glasstruktur lassen sich ultrafeste Gläser herstellen, die im Leichtbau und unter Sicherheitsaspekten Anwendung finden, aus den Nanopartikeln lassen sich durch Sintern neuartige Keramiken mit reduzierter Sprödigkeit aufbauen, die Verringerung der Reibung ist bei zahlreichen bewegten Teilen ein vorrangiges Ziel, Werkstoffe mit reduzierter Adhäsion von Bakterien sind für medizinische Implantate äußerst interessant.
Dementsprechend ist die Entwicklung neuer Werkstoffe direkt mit Industriebetrieben ein wichtiges Standbein des Instituts. Das Spektrum der durchgeführten Arbeiten ist auch auf diesem Gebiet recht breit, wie es eben für die Materialforschung typisch ist. In Zusammenarbeit mit der Industrie werden z.B. verschiedene Lotlegierungen entwickelt, und zwar von umweltfreundlichen Weichloten als Ersatz für bleihaltige Lote, über Hartlote und Hochtemperaturlote bis zu Aktivloten, die zum Fügen von keramischen Bauteilen verwendet werden können. Die genannten Entwicklungsprojekte sollen direkt zu wettbewerbsfähigen Produkten führen und werden typischerweise zu großen Teilen vom Industriepartner finanziert. Durch die Zusammenarbeit besteht auf diese Weise Zugang zur Analytik des Instituts, der Betrieb trägt zur Ausbildung der Studierenden bei und gewinnt gleichzeitig einen wesentlich tieferen Eindruck über die Leistungsfähigkeit der Studierenden als etwa in einem zeitlich begrenzten Bewerbungsgespräch.
Kleine und mittlere Unternehmen, die keine eigene Forschungsabteilung unterhalten, entwickeln zusammen mit dem OSIM Werkstoffe und Bauteile. Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung von kardiovaskulären Implantaten („Okkludern“), die zur Behebung von angeborenen Herzfehlern in der Medizintechnik Eingang finden. Ziel ist es hier, die Werkstoffeigenschaften eines über ein Katheter minimalinvasiv implantierten Okkluders so zu optimieren, dass er seine mechanische Funktion (Verschluss eines Defekts in der Herzscheidewand) zuverlässig erfüllt, gleichzeitig aber keine unerwünschten Nebenwirkungen zeigt wie etwa das Freisetzen von Ionen in gesundheitsbedenklicher Konzentration. Dazu wird ein verbessertes Verständnis der Wechselwirkungen der Oberfläche des Materials mit dem umgebenden Medium, hier der Körperflüssigkeit/dem Körpergewebe erarbeitet und mit Hilfe modernster Analysemethoden überprüft.
Größer angelegte Projekte mit Industriepartnern werden auch von öffentlichen Geldgebern (mit)finanziert. In Frage kommen hierbei die Ministerien mit Verantwortung für Wirtschafts- und Forschungsfragen sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene. Besonders große Entwicklungsprojekte werden von der EU getragen. Hier ist ein Beispiel die Entwicklung von Gläsern für die Architektur von großen Glasflächen, die außer ihren üblichen Eigenschaften wie Schutz und Transparenz weitere funktionelle Eigenschaften erfüllen. Ein derartiges Projekt wird unter dem Titel ”Large-area Fluidic Windows“ (LaWin) derzeit mit Industriepartnern aus Thüringen, Mitteldeutschland und ganz Europa durchgeführt. Ziel ist es, großflächige Fassadenelemente zu entwickeln, welche als aktive Gebäudehülle dienen und über die Funktionalität sowohl eines Wärmetauschers als auch eines Solarkollektors verfügen. Die praktische Umsetzung erfolgt durch ein mit Mikrokanälen strukturiertes Glas, durch welches eine Flüssigkeit zirkuliert. Diese Flüssigkeit ermöglicht sowohl die automatische Regulierung des Lichteinfalls als auch die Aufnahme der Außenwärme. In der Laufzeit des Projekts sollen erste Prototypen hergestellt werden, um damit die Technologie zu erproben.
Prof. Dr. Dr. h.c. Markus Rettenmayr
Der Autor studierte Metallkunde in Stuttgart und war im Zuge seiner Doktorarbeit am Max-Planck-Institut für Metallforschung in Stuttgart tätig. Markus Rettenmayr forschte als Postdoktorand am Rensselaer Polytechnic Institute, Troy, NY, USA und habilitierte im Anschluss an der Technischen Universität Darmstadt. Er ist Universitätsprofessor an der Friedrich Schiller-Universität Jena und Geschäftsführender Direktor am Otto-Schott-Institut für Materialforschung (OSIM).