Wie kann die Unabhängigkeit von fossilen Rohstoffen geschaffen, wie genug Nahrung für die Weltbevölkerung bereitgestellt werden? Für die mehr als 1.000 Wissenschaftler am BioSC liegen die Antworten darauf in der Bioökonomie.
Was kommt nach dem Öl? Wie kann eine zunehmende Weltbevölkerung mit hochwertigen Nahrungsmitteln versorgt werden? Diese Fragen werden für die zukünftige Entwicklung der Welt von einschneidender Bedeutung sein. Seit Jahrzehnten ist Erdöl der Rohstoff, auf dem nahezu unsere gesamte Industrie beruht – sei es bei der Produktion von Nahrungsmitteln, Chemikalien oder der Erzeugung von Kraftstoffen.
Fest steht, das fossile Zeitalter geht in naher Zukunft zu Ende, ganz gleich, ob der Peak Oil schon hinter uns liegt oder unmittelbar bevorsteht. Die Frage, wie fossile Rohstoffe im Produktionskreislauf moderner Volkswirtschaften zu ersetzen sind, gewinnt vor dem Hintergrund des fortschreitenden Klimawandels zusätzlich an Relevanz. Als Ersatz kommen derzeit einzig nachwachsende Rohstoffe in Frage. Solche in ausreichendem Umfang zu produzieren, ohne industriellen Produktivitätsrückgang und Verknappung des Nahrungs-, beziehungsweise Futtermittelangebots stellt eine gesellschaftliche Herausforderung dar. Gerade die weltweite Ernährungssicherung ist ein Punkt, der bei einer zu erwartenden Zunahme der Weltbevölkerung von 6,8 auf 9,6 Milliarden Menschen im Jahr 2050 von allerhöchster Priorität sein muss. Gelingen kann diese nur durch eine Steigerung des Ertrags und der Qualität von Nutzpflanzen, und das trotz limitierter Agrarflächen und unter den Bedingungen des Klimawandels. Dazu kommen weitere Herausforderungen: Wie können wir neue Kraftstoffe gewinnen, um den hohen Grad an Mobilität unserer Gesellschaften aufrechtzuerhalten? Auf welchem Weg wird es möglich, eine hinreichende Masse an Rohstoffen für die industrielle stoffliche Nutzung zur Verfügung zu stellen? Wie können solche Rohstoffe erzeugt werden, ohne die notwendige Produktion von Nahrungsmitteln zu begrenzen? Für die Suche nach biobasierten und nachhaltigen Lösungen zur Bewältigung wird die Integration von Spezialwissen immer wichtiger.
Biomasse als Schlüssel zur Beantwortung drängender Zukunftsfragen. Einen vielversprechenden Lösungsansatz für diese Fragen bietet das Konzept einer wissensbasierten Bioökonomie. Ihr Ziel ist es, die Erdöl- nutzenden Industrien durch eine auf Biomasse setzende Wirtschaft zu ersetzen. Grundlage dieser Entwicklung stellen nachwachsende Rohstoffe dar. Die Bioökonomie verfolgt die Vision einer integrierten Nutzung des Wissens über Organismen und biologische Prozesse zur nachhaltigen Produktion von Nahrungsmitteln, Rohstoffen, Chemikalien, biobasierten Materialien und Kraftstoffen. Dabei finden die ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekte der Nachhaltigkeit genauso Berücksichtigung wie die notwendige Anpassung an den Klimawandel. Der Ansatz der integrierten Bioökonomie umfasst sämtliche wirtschaftliche Sektoren und die dazugehörigen Dienstleistungen, die biologische Ressourcen produzieren, verarbeiten oder nutzen.
Die Verarbeitung von Biomasse und die daraus erzeugten Produkte bilden die Grundlage der Bioökonomie. Biomasse hat eine wesentliche Funktion als Lebens- und Futtermittel, industrieller Rohstoff und auch als Energieträger. Auch vom Menschen nicht genutzte Biomasse spielt eine wichtige Rolle, etwa als Nährstoff in Ökosystemen, als Lebensraum für verschiedenste Lebewesen oder als Speicher großer Mengen an Kohlendioxid für den Klimaschutz.
Das Potenzial der Bioökonomie liegt in der Entwicklung von neuartigen Produkten und Produktionsverfahren, in der Nutzung von Synergien und in der Erhöhung der Ressourceneffizienz der unterschiedlichen, miteinander verbundenen biobasierten Wertschöpfungsketten. Sie reichen von der Erzeugung der Biomasse in der Land- und Forstwirtschaft bis zu Endprodukten in der Ernährungs- und Futtermittelwirtschaft, in der Energiewirtschaft und in Industriebereichen, wie zum Beispiel der Chemie-, Textil-, Papier- oder Pharmaindustrie.
Die Politik in Deutschland hat das Potenzial der Bioökonomie längst erkannt. Bereits 2009 hat die damalige Bundesregierung mit dem Nationalen Forschungs- und Technologierat Bioökonomie ein unabhängiges Beratungsgremium ins Leben gerufen, das aus wissenschaftlicher Sicht Empfehlungen für die Entwicklung und Implementierung einer wissensbasierten Bioökonomie geben soll. Im September 2010 wurde durch den nationalen Bioökonomierat ein Gutachten erstellt, dessen Empfehlungen Grundlage des Regierungsprogramms „Nationale Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030“ geworden sind. Mit dieser Veröffentlichung hat die Bundesregierung ihre Ideen eingebracht, wie der Wandel hin zu einer biobasierten Wirtschaft gelingen soll und unterstützt werden kann.
Das Bioeconomy Science Center – ein systemisches Gesamtkonzept. Voraussetzung für eine wissensbasierte Bioökonomie ist die Integration verschiedener Forschungsdisziplinen und hochrangiger wissenschaftlicher Expertise in einem integrativen Konzept. Dieser Vision folgend ist im Oktober 2010 im Herzen des Rheinlands, im Städteviereck Aachen-Bonn-Düsseldorf-Jülich das Bioeconomy Science Center (BioSC) gegründet worden. In dieser langfristig angelegten wissenschaftlichen Kooperation legen die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH Aachen), die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und das Forschungszentrum Jülich bereits heute herausragende Forschungsaktivitäten in zahlreichen Themenfeldern der Bioökonomie zusammen und bilden so eine exzellente Forschungslandschaft in einem starken bioökonomieorientierten Industrieumfeld in Nordrhein-Westfalen (NRW). Die vier Partner haben ein Konzept entwickelt, in dem alle relevanten Wissenschaftszweige zur Bereitstellung von Biomasse und biobasierten Produkten und Prozessen in einem international sichtbaren und derzeit einmaligen Forschungszentrum in NRW vertreten sind.
Das Bioeconomy Science Center basiert auf einer integrierten Struktur aus Grundlagenforschung, anwendungsorientierter und industrienaher Forschung, die Natur-, Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften umfasst. Die über 1.400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der am BioSC beteiligten Institute und die weiteren Partner aus Wissenschaft und Wirtschaft führen ihre Spezialexpertisen auf der Basis einer gemeinsamen Strategie zusammen und erforschen disziplinübergreifend, wie sich neue, auf biologischen Grundlagen basierende Produkte und Prozesse etablieren lassen. Das BioSC umfasst dabei nicht alle Bioökonomie-relevanten Wissenschaftszweige und Handlungsfelder, sondern fokussiert sich auf Basis der Stärken der Partner auf vier Forschungsschwerpunkte:
1. nachhaltige pflanzliche Bioproduktion und Ressourcenschutz
2. mikrobielle und molekulare Stoffumwandlung
3. Verfahrenstechnik nachwachsender Rohstoffe
4. Ökonomie und gesellschaftliche Implikationen der Bioökonomie
Ein Beispiel: In Bonn kann pflanzliche Biomasse nachhaltig angebaut werden, deren Eigenschaften in Düssel dorf und Jülich analysiert und optimiert werden. Darauf aufbauend können Aachener Ingenieure ein neues Verfahren zur Verarbeitung von pflanzlicher Biomasse entwickeln, die dann zur stofflichen Nutzung in biologischen und chemischen Verfahren zu neuen Wert- und Wirkstoffen umgewandelt wird.
Bei neuen Berufungen im Bereich Bioökonomie stimmen sich die RWTH Aachen, die Universitäten Bonn und Düsseldorf sowie das Forschungszentrum Jülich gemeinsam ab. Dabei verfolgen sie die Strategie, gemeinschaftlich die nötigen inhaltlichen Schwerpunkte an den Einrichtungen zu setzen und die Bioökonomie-Forschung in der Region Nordrhein-Westfalen strukturiert und synergistisch weiter zu entwickeln. Neben der Forschung sind Lehre und Ausbildung in den verschiedenen Themenfeldern der Bioökonomie ein weiteres Kernelement des BioSC.
Seit 2013 stärkt das Land NRW das Bioeconomy Science Center im Rahmen einer langfristigen Projektförderung. Das sogenannte NRW-Strategieprojekt BioSC sieht die Umsetzung zahlreicher Maßnahmen zur Vernetzung und Integration der Forschungsschwerpunkte und BioSC-Standorte vor. Dafür stehen in den nächsten zehn Jahren mehr als 58 Millionen Euro zur Verfügung. Im Mittelpunkt der Förderung stehen disziplinübergreifende Forschungsprojekte, die neuartige Forschungsfragen der Bioökonomie behandeln sollen. Diese entwickeln sich schnell weiter und benötigen daher sowohl kurz- als auch längerfristige Projektzeiträume. Diesem Bedarf entsprechend können sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BioSC an Kooperationsprojekten mit anderen BioSC-Partnern beteiligen. Zwei Förderlinien, in denen Forschungsprojekte unterschiedlichen Umfangs und mit unterschiedlicher Zielsetzung sowie unterschiedlichem Entwicklungs- und Integrationsstand beantragt werden können, dienen der Entwicklung von Lösungsbeiträgen zur Bewältigung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen.
Der Autor war acht Jahre lang Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Jülich. Zuvor war er Mitglied des Vorstandes des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt und Delegierter der Europäischen Weltraumorganisation ESA. Bachem studierte Mathematik und Physik an den Universitäten Köln und Bonn. Während seiner universitären Laufbahn war er unter anderem als ordentlicher Professor für Angewandte Mathematik und als Gründungsdirektor des Instituts für Informatik der Universität zu Köln tätig.