Von allen Wachstumsbranchen dürfte unsere Kultur- und Kreativwirtschaft die wohl vielseitigste, in sich verflochtendste und vibrierendste sein. 120.000 Neugründungen gab es in Deutschland 2010. Besonders erfreulich: 80 Prozent können sich bereits nach drei Jahren im Markt etablieren, sagt die KfW-Bankengruppe. In Hessen hat sich die Szene zu einem der großen Steuerzahler gemausert. Mit mehr Beschäftigten als in jeder anderen Branche. Aufs Ganze gesehen also ein ernstzunehmender Wirtschaftsfaktor.
Die Kultur- und Kreativwirtschaft fungiert gewissermaßen als Brückenbranche zwischen der emotionsbereinigten Arbeitswelt auf der einen Seite – und einem schönen, sinnerfüllten Leben auf der anderen Seite. Stichwort: Work-Life-Balance. Gerne auch mit Stil. Wenn Sie dabei jetzt an handgefertigte Schuhe denken, einverstanden. Aber vergessen Sie Aldi, C&A und Ikea nicht. Der eigene Stil macht den Unterschied.
Mit den Stilmitteln der Kunst verwandeln sich abstrakte Wertvorstellungen in konkrete Erlebnisse. Auf diese Weise unterstützen Kreative den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Innovationsprozess und bringen ihn voran. Stil ist deshalb die zentrale Kunstfertigkeit, die von Gründern erwartet wird. Dabei ist Stil nicht nur Lifestyle, sondern Stadtgestaltung, Mediengestaltung, Unternehmensgestaltung, Produktgestaltung. Stil ist die Haltung, die das Verhalten steuert, und die schnellste Art der Kommunikation. Vor allem aber ermöglicht Stil eine sehr dezidierte Differenzierung: „Das bin ich! Das bin ich nicht!“

- Klare Differenzierungen wiederum sind Überlebensstrategien. Sie funktionieren jedoch nur, wenn sie auch wahrgenommen werden. Jeder Wettbewerb ist deshalb zuerst ein Wettbewerb der Wahrnehmung. Allerdings sind dem Wahrnehmungsvermögen des erhofften Publikums enge Grenzen gesetzt. Ohne Kreativität, ohne neue Stilmittel gibt es da kein Durchkommen.

Dadurch – und nicht zuletzt aufgrund der neuen Medien – entsteht ein vielseitiger Permanentbedarf. Die Folge: Es gibt einiges zu tun. Hier liegen Charme und Chance der Branche als Ganzes, aber auch für jeden Einzelnen, der sich selbstständig macht. Dabei fängt die Selbstständigkeit schon lange vorher an.
Bereits die Ausbildung zielt darauf ab, den eigenen Stil zu finden und zu kultivieren. Lessing sagt zwar: „Wer nur einen Stil hat, hat keinen Stil.“ Aber mit einem muss man schließlich anfangen und der offenbart sich am ehesten in den frühen Arbeiten, die das notwendige Talent erkennen lassen. Zur Selbstständigkeit gehört deshalb auch eine gewisse Eigenständigkeit, ja Eigenwilligkeit, Unverwechselbarkeit. Und mehr als das. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) besagt: „Künstler sind mit ihrer Arbeit glücklicher als alle anderen.“ Der Grund: Sie blühen auf in ihrer Arbeit.
Doch auch dieses Glück muss natürlich mit schöner Regelmäßigkeit Mitarbeiter, Miete und Rechnungen bezahlen. Ohne finanzielle Eigenständigkeit keine Selbstständigkeit. Also sollten kreatives Denken und Unternehmergeist verschmelzen. In der Praxis gibt es denn auch sehr häufig Partner, die gemeinsam gründen. Der eine kümmert sich um das kreative Produkt, der andere um das Management.

Die Designer Sandra Tan und Johannes Schiebe von „Studio Taschide“
sind Absolventen der HfG Offenbach, www.taschide.com.
Kunst und BWL: Kann das gut gehen? Der Kunsthändler und Unternehmensberater Helge Achenbach hat beobachtet: „Erfindergeist, Offenheit, konsequentes Handeln sind Eigenschaften, die Unternehmer mit Künstlern teilen.“ Das DIW und das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) ergänzen Achenbachs Beobachtung. Sie haben untersucht, welche allgemeinen Charaktereigenschaften Unternehmer mitbringen sollten. Ergebnis: emotionale Stabilität, sich also zum Beispiel durch Rückschläge nicht aus der Ruhe bringen lassen; Begeisterungsfähigkeit, Kontaktfreude und die schon angesprochene Offenheit für neue Erfahrungen. Je stärker diese Eigenschaften ausgeprägt sind, desto größer die Wahrscheinlichkeit für einen unternehmerischen Erfolg.

Individuelles Produktdesign ist das Markenzeichen der Absolventen
Thilo Schwer, Jens Pohlmann und Sybille Fleckenstein (von links) vom Designstudio „speziell“, www.speziell.net.
Die HfG Offenbach zum Beispiel gehört zu den Kunsthochschulen, die mit ihren Studierenden gezielt auf eine Existenz in der freien Marktwirtschaft hinarbeiten. Zuständig ist ein eigenes Büro für Wissenstransfer, das unter anderem Vortragsreihen zu Themen rund um die Existenzgründung initiiert und Studierenden und Absolventen ein breitgefächertes Beratungsangebot bietet.
Einen vielbeachteten Beitrag lieferte unter anderen Sophia Muckle, Produktgestalterin und Absolventin der HfG. Sie schrieb die Arbeit „Parcours – Existenzgründung für Designer.“ Eine strukturierte Vorgehensweise, die zuerst als PDF veröffentlicht wurde. Die Nachfrage war rasant. Viele nutzten die Arbeit im Unterricht. 2006 erschien sie als Buch im renommierten Verlag Hermann Schmidt Mainz, aktuell in der dritten Auflage.
Jeder, der den Schritt in die Selbstständigkeit wagt, betritt Neuland. Aber es gibt Navigationshelfer. Hierzu zählen die aufschlussreichen Begegnungen zwischen Studierenden und erfahrenen Gründern, die sich als Mentoren engagieren. Und dadurch ganz nebenbei eine neue Gründerkultur in Hessen begründen.
Beispiel: Die HfG-Veranstaltungsreihe „Wege in die Selbstständigkeit – Unternehmer stellen sich vor“. Zu den gestandenen Unternehmern gehören Gregor Ade, HfG-Absolvent, heute Managing-Partner der Peter Schmidt Group, Frankfurt.
Oder Ralph Anderl, der „darüber doziert, wie aus einem Drei-Mann-Wohnzimmer-Projekt ein mittelständisches Unternehmen mit 125 Mitarbeitern und mehr als zehn Millionen Euro Umsatz wurde“, wie Cicero berichtet.
Oder Kurt Friedrich, Gründer von dialog-plan, der schon während seiner HfG-Zeit ein Büro für Produktgestaltung führte. Stefan Hauser und Laurent Lacour, Gründer der gleichnamigen Corporate Design Agentur. Stefan Karp, HfG-Absolvent und Gründer von ma ma Interactive System Design. Oliver Raszweski, früher HfG, heute Maler und Künstler. Axel Ricker, Gründer der Markenagentur ID4, der parallel zum HfG-Studium unter anderem für Scout Maxi arbeitete. Oder Sebastian Herkner, vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Design Preis. Nach dem HfG-Studium gründete er sein eigenes Studio, arbeitet für angesehene Unternehmen und bringt seine Erfahrungen nunmehr in gemeinsame Projekte mit HfG-Studierenden ein.
In anderen Begegnungen geht es um Projektmanagement, Positionierung und Spezialisierung, um ungewöhnliche Strategien oder darum, Kontakte und Netzwerke zu knüpfen und zu pflegen. Kurz: um alles, was das kreative Denken zu seiner Ergänzung braucht.
Trotz allem sollten wir eines nie aus den Augen verlieren: Das kreative Denken ist kein Selbstzweck. Sondern nur Mittel zum Zweck. Das Ziel heißt: anderen etwas Gutes tun. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung voranbringen. Niemand sollte sich dabei Illusionen machen. Unterm Strich entscheidet der menschliche Faktor, und wir Menschen sind nun mal keine berechenbaren Konstruktionen. Ein unberechenbares Geschäft also? Nun, wäre es einfach, könnte es jeder. Auf der anderen Seite: 80 Prozent der Gründer schaffen es.
Der Autor studierte an der Hochschule für bildende Künste, Hamburg und am M.I.T. Center for Advanced Visual Studies, Cambridge (USA). Von 1999 bis 2006 hatte Prof. Bernd Kracke die Professur für Elektronische Medien an der HfG Offenbach inne und gründete in dieser Zeit das CrossMediaLab. Seit 2001 war Prof. Bernd Kracke Dekan des Fachbereichs Visuelle Kommunikation. Seit 2006 ist er Präsident der HfG Offenbach.