Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Erde. Auf vielen Feldern sind deutsche Unternehmen führend in der Welt, etwa in der Automobil-, der Chemie- oder der Maschinenbau-Branche. „Made in Germany“ gilt rund um den Globus als Qualitätsmerkmal höchster Güte. Tatsächlich aber sind es nicht allein die bekannten Großkonzerne wie Siemens oder Volkswagen, die den Kern der deutschen Wirtschaft ausmachen. Ein großer Teil der volkswirtschaftlichen Leistung wird vielmehr von kleinen und mittleren Unternehmen erbracht, dem sogenannten „Mittelstand“.
Eine offizielle Definition des Begriffs Mittelstand existiert bis dato nicht. In der Regel werden zum Mittelstand Unternehmen mit bis zu 500 Mitarbeitern und bis zu 50 Millionen Euro Umsatz im Jahr gezählt. Nach dieser Definition umfasst der deutsche Mittelstand mehr als 99 Prozent aller umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen sowie zwei Drittel aller Beschäftigten und über 80 Prozent der Auszubildenden. Auch wenn der Mittelstand nur rund 40 Prozent aller Umsätze erwirtschaftet, so lässt er sich doch mit Fug und Recht als Fundament der deutschen Wirtschaft bezeichnen. Dabei konzentrieren sich die mittelständischen Unternehmen keinesfalls nur auf den heimischen Markt. Viele von ihnen sind international aktiv und in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern häufig sogar Marktführer, sogenannte „Hidden Champions“.
Welche besonderen Werte und Eigenschaften zeichnen den deutschen Mittelstand aus? Natürlich die oft als typisch deutsch bezeichneten Tugenden wie Zuverlässigkeit, Organisationsstärke und Fleiß, aber auch Qualitätsbewusstsein, Beständigkeit und das Übernehmen unternehmerischer Verantwortung. Die wirklich entscheidenden Faktoren sind meines Erachtens aber Innovation, Kundennähe, Flexibilität und der Mut zum Risiko. Viele mittelständische Unternehmen sind wahre Ideenschmieden, haben das Ohr an den Bedürfnissen der Kunden, können schnell Entscheidungen treffen und diese umsetzen und sind bereit, ausgetretene Pfade zu verlassen und neue Märkte zu erschließen.
Auch Fresenius, das Unternehmen, dem ich seit zehn Jahren vorstehe, hat seine Wurzeln im Mittelstand. Heute ist Fresenius ein weltweit tätiger Gesundheitskonzern mit über 170.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von rund 20 Milliarden Euro. Bis in die 1970er Jahre aber war Fresenius ein mittelständisches Unternehmen. Die Basis für das ab Mitte der 1970er Jahre immer rasantere Wachstum hin zum heutigen Großkonzern waren genau die oben genannten Werte Innovation, Kundennähe, Flexibilität und Mut zum Risiko. Ich halte es für eines der wesentlichen Erfolgsgeheimnisse unseres Unternehmens, dass wir uns diese Werte bis heute bewahrt haben.
Innovation beispielsweise ist die Grundlage aller Geschäftstätigkeit bei Fresenius. Auch wenn ein Geschäft sehr gut läuft, sich ein Produkt sehr gut verkauft, sind wir trotzdem ständig bemüht, dieses Produkt oder diese Dienstleistung weiter zu verbessern. Davon profitieren unsere Patienten, es ermöglicht es uns aber auch, unsere Stellung im Markt zu behaupten oder sogar auszubauen. Anfang der 1980er Jahre hatten wir zum Beispiel ein einträgliches Geschäft mit Dialysegeräten und Dialysatoren zur Behandlung Nierenkranker. Uns genügte aber die Reinigungsleistung der damals produzierten Dialysatoren nicht. Mit der Polysulfonfaser entwickelten wir eine Membran, die ähnlich leistungsfähig ist wie die menschliche Niere. Bis heute definieren Dialysatoren aus Polysulfon den Goldstandard in der Dialysetechnik. Dank dieser Innovation gelang Fresenius der Aufstieg zum Weltmarktführer in der Dialyse.
Flexibilität und Kundennähe sind gerade für Großkonzerne oft nur schwer zu realisieren. Die häufig komplexen Strukturen verzögern und erschweren Entscheidungen, und der Heterogenität der Märkte lässt sich kaum mit uniformen Massenprodukten begegnen. Kleine, mittelständische Unternehmen können dagegen auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Kunden eingehen und Entscheidungsprozesse schlank gestalten. Um dies auch in den Strukturen eines Großkonzerns zu ermöglichen, haben wir bei Fresenius das Prinzip des Unternehmers im Unternehmen eingeführt. In ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich arbeiten unsere Einheiten weitgehend selbstständig und können die meisten Entscheidungen ohne langwierige Abstimmungen mit höheren Ebenen oder der Konzernzentrale treffen. Dadurch können sie schnell auf neue Entwicklungen reagieren und ihr Geschäftsmodell auf ihre spezifischen Anforderungen ausrichten. Fresenius ist so dezentral aufgestellt, dass wir in vielen Märkten wie ein einheimischer Anbieter wahrgenommen werden.
Je größer Unternehmen werden, desto vorsichtiger werden sie in der Regel auch. Dies gilt insbesondere für börsennotierte Unternehmen, wo falsche oder missverstandene Entscheidungen schnell fatale Auswirkungen auf den Aktienkurs haben können. So wichtig ein umsichtiges Vorgehen ist – wer dauerhaft das Risiko großer unternehmerischer Entscheidung scheut, dem drohen Stagnation und in der Folge oft der Verlust von Marktanteilen und -positionen. Viele heute große deutsche Unternehmen sind dagegen nur dem Mittelstand entwachsen, weil sie in entscheidenden Situationen gerade nicht auf Nummer sicher gegangen sind, sondern den Mut zur unternehmerischen Initiative bewiesen und ihre Chancen genutzt haben.
Auch die Geschichte von Fresenius ist geprägt von wegweisenden, zu ihrer jeweiligen Zeit durchaus umstrittenen Entscheidungen. Dies beginnt schon mit dem Entschluss der Fresenius-Erbin Else Kröner, das nach dem Zweiten Weltkrieg am Boden liegende Unternehmen fortzuführen und wiederaufzubauen. Der Einstieg in die Entwicklung eigener Dialysegeräte und Dialysatoren Mitte der 1970er Jahre markierte den Aufstieg vom Mittelständler zum weltweit operierenden Gesundheitsunternehmen. Aber auch als Großkonzern mit Milliardenumsatz hat Fresenius nicht der Mut zu großen Schritten verlassen. In den vergangenen zwanzig Jahren gehörten dazu etwa die Übernahme des damals mehr als doppelt so großen US-amerikanischen Dialyseanbieters National Medical Care im Jahr 1996, aber auch der Einstieg in das private Krankenhausgeschäft in Deutschland im Jahr 2001 oder die milliardenschwere Akquisition des US-amerikanischen Generika-Herstellers APP Pharmaceuticals im Jahr 2008 inmitten der weltweit schwelenden Finanz- und Wirtschaftskrise. All diese Entscheidungen haben Fresenius neue Chancen und Märkte erschlossen und den Weg zu einer jeweils führenden Stellung geebnet.Die unternehmerische Stärke und Konkurrenzfähigkeit des deutschen Mittelstands sind einer der wesentlichen Faktoren für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands insgesamt. Sie sind auch einer der Gründe, weshalb das Land unter der seit 2008 anhaltenden Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise vergleichsweise wenig leidet und schnell wieder zu einem robusten Wirtschaftswachstum zurückgefunden hat. Diese Stärke und die ihr zugrunde liegenden, oben skizzierten Werte und Eigenschaften in die Strukturen eines Großkonzerns zu übertragen, ist keine leichte Aufgabe – aber eine äußerst lohnende.
Der Autor ist Vorstandsvorsitzender von Fresenius. Dr. Schneider kam 2001 als Vorstandsmitglied zu Fresenius Medical Care und zeichnete für den Bereich Finanzen verantwortlich. Davor war er Group Finance Director bei Gehe UK plc. Seit 1989 war er bei Franz Haniel & Cie. GmbH in leitenden Positionen tätig. Er studierte und promovierte im Bereich Wirtschaftswissenschaften und verfügt über einen MBA-Abschluss der Harvard University.