Wird über Afghanistan berichtet oder gesprochen, denken die meisten Menschen zuerst an den dort in vielen Teilen des Landes herrschenden Konflikt. Als mit den Anschlägen vom 11. September 2001 Afghanistan in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit geriet, herrschte im Land ein bereits über 20 Jahre unter wechselnden Vorzeichen geführter, jedoch kaum beachteter Bürgerkrieg. In den Jahren nach den Anschlägen von New York und Washington konzentrierte sich die Berichterstattung der Medien vorwiegend auf den militärischen Einsatz in Afghanistan. Nicht zuletzt diese einseitige Betrachtung führte dazu, dass Afghanistan in Deutschland von vielen Menschen in erster Linie als Krisenland wahrgenommen wird. Ohne Zweifel ist ein unternehmerisches Engagement in Afghanistan mit Herausforderungen verbunden, die nicht verschwiegen werden sollten. Zu diesen Herausforderungen zählen beispielsweise die regionalen und saisonalen Unterschiede in der Sicherheitslage. Allerdings ist die Gefährdungslage, entgegen der häufigen Annahme, nicht in allen Landesteilen gleich. So wird die Bedrohung beispielsweise in den meisten Distrikten im Norden des Landes, wo Deutschland besondere Verantwortung trägt, als niedrig eingestuft. Auch schwache staatliche Verwaltungskapazitäten und die weitverbreitete Korruption werden häufig als Hemmnisse für Investitionen in Afghanistan benannt. Diese Probleme sind jedoch keine originär afghanischen Phänomene, sondern leider in vielen Entwicklungsländern anzutreffen. In konkreten Projekten und Programmen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) wird der Bekämpfung der Korruption und der Stärkung der Verwaltung in Afghanistan besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan arbeitet somit auch an der Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Land. „Invest in Afghanistan“ ist heute eine große Chance, die wir als BMZ mit allen Möglichkeiten unterstützen wollen.
Die ausschließliche Konzentration auf die noch immer großen Herausforderungen, vor denen Afghanistan steht, wird dem vielfältigen Land nicht gerecht. Denn insbesondere die rege wirtschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren belegt: Afghanistan ist ein Chancenland. So verzeichnete die afghanische Wirtschaft im Jahr 2009/10 durch eine Rekordernte und deutliche Zuwächse im Dienstleistungssektor ein reales Wirtschaftswachstum von über 20 Prozent, im Jahr 2010/11 wuchs die Wirtschaft preisbereinigt um 8,2 Prozent.Einen bedeutenden Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat im ländlich geprägten Afghanistan nach wie vor die Landwirtschaft. Allerdings nahm dieser laut Asiatischer Entwicklungsbank (Asian Development Bank, ADB) von 45 Prozent im Jahr 2002 auf 32 Prozent im Jahr 2008 kontinuierlich ab. Industrie und Bauwirtschaft hingegen konnten ihren Anteil am BIP auf 26 Prozent steigern. Am deutlichsten zeichnet sich die zunehmende Bedeutung des Dienstleistungssektors ab, in dem mittlerweile 42 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet werden. So besitzen beispielsweise von den rund 30 Millionen Afghanen mittlerweile etwa 17 Millionen ein Handy, während es im Jahr 2002 faktisch keine Mobilfunknutzer im Land gab. Es ist daher nicht übertrieben, wenn man den Mobilfunkbereich als die Boombranche Afghanistans schlechthin bezeichnet. Dies erzeugt Rahmenbedingungen für viele weitere Innovationen.
Aber auch Bodenschätze wie Eisenerz und Kupfer sowie Gold- und Erdölvorkommen versprechen wirtschaftlich interessante Perspektiven für Unternehmen. Ferner verfügt das Land über Lithium-Vorkommen, die zu den größten weltweit gezählt werden und beispielsweise für den Bau von Batterien von Bedeutung sind. Die afghanische Regierung legt gemäß den Prinzipien der Extractive Industries Transparency Initiative (EITI) großen Wert auf eine transparente Konzessionsvergabe und eine ebenso transparente Verwaltung der erwarteten Einnahmen. Allerdings kann das Potenzial, das der Bergbau in Afghanistan bietet, bislang aufgrund fehlender Infrastruktur und einer unterentwickelten verarbeitenden Industrie erst ansatzweise ausgeschöpft werden. Im Lichte dieser Rahmenbedingungen konzentrieren sich ausländische Investoren, darunter auch Unternehmen aus Deutschland, in ihrem Engagement derzeit auf die Bau- und Telekommunikationsbranche, die Leichtindustrie, die Weiterverarbeitung von Agrarerzeugnissen sowie den Beratungs- und Dienstleistungssektor. Vor dem Hintergrund deutscher Werte und Interessen unterstützt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aber gerade auch Unternehmen im Rohstoffbereich.
Einen nicht zu unterschätzenden Faktor für die afghanische Wirtschaft stellen Importe dar, die für viele Branchen sogar überlebenswichtig sind. Dabei wurden aus Deutschland im Jahr 2010 Güter im Wert von rund 269 Millionen Euro importiert. Wenngleich Experten davon ausgehen, dass sich die Wachstumsraten des afghanischen Imports der letzten Jahre abschwächen werden, verspricht sich der gesamte Außenhandel Afghanistans Aufwind vom größeren Transithandel zwischen Pakistan und den zentralasiatischen Republiken sowie vom im Jahre 2010 geschlossenen und am 12. Juni 2011 in Kraft getretenen Afghanistan-Pakistan Transit Trade Agreement (APTTA).
Nach Deutschland exportiert Afghanistan nur in geringem Umfang. In erster Linie handelt es sich hierbei um getrocknete Früchte und Nüsse. Aber auch hochwertige Produkte wie Safran finden ihren Weg zu deutschen Konsumenten. Gleichwohl weisen deutsche Importe aus Afghanistan beeindruckende Wachstumsraten auf: laut Statistischem Bundesamt steigerten sie sich von nur 2,76 Millionen Euro im Jahr 2008 auf knapp 24 Millionen Euro im Jahr 2010.

Afghanistan gilt als eines der investorenfreundlichsten Länder Zentralasiens, da das Investitionsrecht fast nicht zwischen inländischen und ausländischen Investments unterscheidet. Der augenfälligste Unterschied besteht darin, dass ausländische Investoren keinen Grundbesitz in Afghanistan erwerben, sondern lediglich langjährige Pachtverträge schließen dürfen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Investitionsfreundlichkeit haben sich seit dem Jahr 2001 bereits mehr als 90 deutsche Unternehmen in Afghanistan angesiedelt, um in den wachsenden Markt zu investieren. Derzeit sind 45 Firmen als „deutsch“ beziehungsweise „deutsch-afghanisch“ registriert. Die Mehrzahl dieser Firmen zählt zur Bau-, Energie- oder Infrastrukturbranche, aber auch aus den Bereichen Consulting, Medizintechnik und Telekommunikation werden Produkte und Dienstleistungen angeboten.
Zur Förderung der Geschäftstätigkeit im Land wurden mit Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im September 2003 eine Investitionsförderagentur (Afghanistan Investment Support Agency, AISA) und im September 2006 eine Exportförderungsagentur (Export Promotion Agency of Afghanistan, EPAA) gegründet. Dabei ist die AISA in erster Linie für die Registrierung von Firmen verantwortlich. Da die Registrierung weniger Verwaltungsschritte als in allen anderen Entwicklungsländern der Welt benötigt und binnen einer Woche abgeschlossen ist, wird die Registrierungstätigkeit der Investitionsförderagentur regelmäßig von der Doing-Business-Umfrage der Weltbank als eine der besten in der Welt beurteilt. Die afghanische Exportförderagentur EPAA wurde mit dem Ziel geschaffen, Vertrieb und Marketing von afghanischen Produkten zu fördern. Derzeit konzentriert sich ihre Arbeit auf die wettbewerbsfähigsten Branchen und somit auf landwirtschaftliche Produkte (insbesondere Trockenfrüchte), Teppichwaren und Bergbauerzeugnisse (vorrangig Marmor und Edelsteine). Neben diesen staatlichen Einrichtungen existiert die afghanische Industrie- und Handelskammer (Afghan Chamber of Commerce and Industry, ACCI) als Zusammenschluss zur Interessenvertretung der privaten Unternehmer in Afghanistan mit bislang über 25.000 Mitgliedern. Sie bietet unter anderem Unterstützung und Beratung auch für ausländische Investoren, damit diese erfolgreich im Land tätig werden können. Derzeit befindet sich zudem die Europäisch-Afghanische Handelskammer (European Chamber of Commerce in Afghanistan, EUCCA) im Aufbau, die künftig die Interessen europäischer Unternehmen in Afghanistan vertreten soll.
Deutsche Unternehmen genießen im Wettbewerb mit ausländischen Mitbewerbern einen unschlagbaren Vorteil in Afghanistan: Deutschland ist in Afghanistan hoch angesehen. Die deutsch-afghanische Freundschaft geht auf eine deutsche Delegation zurück, die das Land vom Jahr 1915 bis 1916 bereiste. Dabei erwarb sie sich das Ansehen der afghanischen Bevölkerung unter anderem dadurch, dass Deutschland dem Land auf Augenhöhe begegnete und es nicht wie eine Kolonie behandelte. Diese Einstellung dem Land gegenüber kann heute angesichts fast 100 Jahre gelebter deutsch-afghanischer Freundschaft – ohne zu übertreiben – als „nachhaltig“ beschrieben werden. Sie trifft damit ein Kernanliegen, das die deutsche Entwicklungszusammenarbeit prägt: das Verfolgen einer langfristigen und damit tragfähigen Perspektive. Die Bundesregierung hat für die Jahre 2010 bis 2013 allein die finanziellen Mittel für den Wiederaufbau Afghanistans nahezu verdoppelt, um die Entwicklungsperspektiven Afghanistans spürbar zu verbessern. Deutsche Unternehmen haben dabei schon heute die Chance, von Afghanistans Wachstum zu profitieren und gleichzeitig an der Entwicklung des Landes mitzuwirken. Denn auch am Hindukusch gilt: Eine florierende Wirtschaft ist das beste Wiederaufbauprogramm.
Der Autor ist Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und war von 1995 bis 2009 Bundesgeschäftsführer der FDP. Er lernte die Grundzüge der Entwicklungspolitik als Referent bei der Friedrich-Naumann-Stiftung kennen und leistete insgesamt mehr als 100 internationale Einsätze in Mittel- und Südamerika sowie Südostasien.