„England’s Dreaming“, Jon Savages große Geschichte der britischen Jugendkulturen und der Zäsur durch Punk endet früh, 1980, mit den Worten: „Die Geschichte wird von denen gemacht, die Nein sagen, und die utopischen Ketzereien des Punk bleiben sein Geschenk an die Welt.“ Eine der bis heute wirkmächtigsten dieser Ketzereien ist die Idee der Selbstermächtigung, des „DIY“, „Do It Yourself“. Und damit sind wir bereits mittendrin in der Geschichte des Kulturzentrums Schlachthof Wiesbaden, einer Geschichte, die 14 Jahre nach dem von Savage ausgerufenen Ende von Punk, im Dezember 1994, beginnt und genau auf jenem trotzigen DIY fußt, das hier vor allem eines meint: sich ein Herz zu fassen und loszulegen. Weil man der Meinung war, dass Wiesbaden dringend ein Kulturzentrum brauchen könnte, weil man die kulturelle Finsternis nicht mehr ertragen konnte, weil man nicht vor die falsche Alternative aus ewigem Lamento oder Wegziehen gestellt werden wollte. Seit diesen Tagen ist einiges passiert.

Heute, im 15. Jahr seines Bestehens, ist der Schlachthof einer der größten Konzert-/Kulturveranstalter im Rhein-Main Gebiet – und seit geraumer Zeit mehr als nur ein „weicher“ Standortfaktor, wenn man über die Orte der (Pop-) Kultur, die Wiesbaden zu bieten hat, in einem weiteren, emphatischen Sinne reden will.
Seine Integrität hat der Schlachthof bei allem Wachstum freilich nie verloren. Mittlerweile verfügt er neben mehreren Veranstaltungsräumen, die Platz für 300 bis 1.800 Gäste bieten, auch über einen angeschlossenen Gastronomiebetrieb mit Gartenwirtschaft, das sogenannte „60/40“. Inmitten des sich entwickelnden „Kulturparks“ rund um den Schlachthof sorgt es täglich, auch außerhalb der Zeiten des reinen Veranstaltungsgeschäftes, für das kulinarische Wohl seiner Gäste.
Über den Veranstaltungsort Schlachthof hinaus organisiert das immer noch als Kollektiv betriebene Kulturzentrum mittlerweile auch das alljährlich am letzten Augustwochenende stattfindende Wiesbadener Folklore Festival mit mehr als 20.000 Besuchern sowie Veranstaltungen im Kurhaus Wiesbaden, den Wiesbadener Rhein-Main-Hallen oder der Offenbacher Stadthalle. Theateraufführungen, Flohmärkte, Lesungen und Tanzveranstaltungen von Tango-Abenden bis Breakbeat-Nächten ergänzen das Angebot um ein Weiteres. Dem aus 14 hauptamtlichen Mitarbeitern bestehenden „Kernkollektiv“ gehen bei der täglichen Arbeit bis zu 60 zumeist studentische Aushilfskräfte zur Hand.
Das Konzertprogramm liest sich wie ein „Who is who“ zeitgenössischer Popmusik. Es umfasst den gesamten „Mainstream der Minderheiten“, um den mittlerweile klassisch gewordenen Begriff zu nutzen, den Tom Holert und Mark Terkessidis in ihrer gleichnamigen Studie Mitte der Neunziger geprägt haben. Von Hip-Hop über Punkrock zu Indie und Elektro, von Reggae zu Hardcore, von Soul bis Weltmusik, schließlich von Jazz bis Avantgarde, reicht die Bandbreite der Künstler, die hier bereits die Bühne betraten. Nicht nur wenige Stimmen zum Klingen zu bringen, sondern das gesamte Orchester – harmonisch oder dissonant – hörbar zu machen, ist die vornehmste Aufgabe, die sich ein Kulturzentrum zum Auftrag machen kann. Dabei ist das Booking nicht auf den deutschen Markt beschränkt. Von den Sportfreunden Stiller, die hier zu Beginn ihrer Karriere vor 20 Gästen, später vor ausverkauftem Hause gastierten, zu The Notwist, die das oberbayerische Weilheim zu einem der wichtigsten Orte internationaler Musikproduktion an der Schnittstelle von Elektronik und Gitarre machten, von den Inventoren des deutschen Hip-Hop, den Fantastischen Vier, bis hin zu internationalen Künstlern wie den „Conscious Rappern“ von De La Soul reichen die Bookings. Avantgarde Acts wie die New Yorker No Wave-Pioniere Sonic Youth, denen im Frühjahr 2009 eine eigene Ausstellung in den Düsseldorfer Kunsthallen gewidmet war, oder At The Drive-In spielten hier so selbstverständlich wie Motörhead oder andere Metal-Bands. Maceo Parker, ein Weggefährte James Browns, trat hier genauso auf wie die Klezmatics, eine der aufregendsten New-Klezmer-Bands der Welt.

Nach all dem Gesagten nimmt es tatsächlich nicht wunder, dass man von Hamburg bis Los Angeles positiv auf den Schlachthof Wiesbaden, manchmal als „Weisbaden“ apostrophiert, angesprochen wird – der Autor verbürgt sich für die Richtigkeit dieser Feststellung. Der Schlachthof ist zu einem der zentralen Veranstaltungsorte für Popkultur geworden. Weltweit. Dass er in den Lesercharts des meistgelesenen deutschen Musikmagazins „intro“ seit mehreren Jahren den ersten Platz in der Kategorie „bester Club“ belegt, ist da nur folgerichtig.
Übers Jahr finden hier gut 300 Veranstaltungen statt, die weit mehr als 100.000 Besucher anziehen. Und das aus einem Einzugsgebiet, das je nach Act die Grenzen Hessens, ja sogar Deutschlands sprengt. Straßburger und Pariser Nummernschilder finden sich hier ebenso wie holländische, belgische oder Schweizer Kennzeichen. Man hörte sogar schon von Australiern, die ihren Europabesuch um eine Show im Schlachthof herum gelegt haben sollen. Und nicht selten freut man sich über Tourneeplakate von Künstlern, deren Deutschlanddaten aus genau vier Städten bestehen: Berlin, Hamburg, München und Wiesbaden.
Der 1961 geborene Autor war, nach einem Auslandsaufenthalt von 1989 bis 1991 in London, für die Stadt Wiesbaden tätig. 1992 war er Mitbegründer des Kulturzentrums Schlachthof e.V. in Wiesbaden; seit 1996 ist er dort geschäftsführender Vorstand. 2005 war er Mitbegründer der Schlachthof Kultur GmbH. Dort ist er seitdem Gesellschafter und Geschäftsführer. Seit 2008 arbeitet er auch als Coach und Change Manager.
Der 1973 geborene Autor studierte Jura in Mainz sowie Soziologie, Politik und Philosophie in Frankfurt. Seit 1997 engagierte er sich im KuK Schlachthof Wiesbaden. 1998 gründete er „Rewika Records“. 2005 war er Mitbegründer der Schlachthof Kultur GmbH und ist seither Gesellschafter. Seit 2008 arbeitet er für den Schlachthof als Chef-Redakteur sowie als Consultant in Booking und Marketing.