Nordrhein-Westfalen gleich Kohle und Stahl? Es ist Zeit, endgültig
alte Bilder über Bord zu werfen und das einwohnerstärkste
Bundesland als einen Industriestandort kennenzulernen, der mit einem
BIP von 600 Milliarden Euro gut bei der G20 mitmischen könnte.
Rauchende Schlote – sterbende Industrie. Wer Nordrhein-Westfalen nur von außen kennt, gibt sich gern alten Vorurteilen hin. Tatsächlich bietet das Land ein anderes Bild. Es ähnelt dem, das Willy Brandt schon vor mehr als 50 Jahren gemalt hat – mit seiner Vision vom „blauen Himmel über der Ruhr“.
Das Ruhrgebiet steht bis heute als Synonym für die deutsche Industrie. Und wir wollen, dass es so bleibt. „NRW – Wir sind Industrie“ schreiben wir ausdrücklich auf unsere Fahnen. Es drückt einen Schwerpunkt unserer politischen Arbeit aus, die sich ohne Wenn und Aber von dieser Prämisse leiten lässt: Nordrhein-Westfalen braucht seine Industrie. Sie ist eine Grundlage unseres Wohlstandes.
Mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze in NRW hängen von der Industrie ab: Fast ein Drittel im produzierenden Gewerbe, ungefähr die gleiche Menge bei Dienstleistern, die für die und mit der Industrie arbeiten. Die dienstleistungsorientierte Produktion wächst neben den angestammten produktionsorientierten Dienstleistungen.
Wir unterscheiden nicht zwischen alter und neuer Industrie. Das wäre überholt. Produktionsverfahren und Produkte der einst „alten“ Industrie sind längst hochmodern. Ein Beispiel: Die 200 Jahre alte Friedrich Wilhelms-Hütte in Mülheim gießt heute Stahlgehäuse für Windkraftanlagen.
Wir hegen und pflegen unsere Industrie. Wir fördern Innovationen, sichern so Arbeitsplätze und schützen das Klima – und wir werben für Akzeptanz der Industrie und der Infrastruktur.
Langfristiges und erfolgreiches Arbeiten zielt darauf, gute und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen. Es zielt nicht auf den billigsten, sondern auf den besten Standort.
Moderne Industrie und ökologische Nachhaltigkeit ist dabei kein natürlicher Widerspruch. Nehmen wir die von Industriegegnern gern bekämpfte Chemie. Sie schont Ressourcen mit beträchtlichem Erfolg. So hat sie den Energieverbrauch vom Wachstum der Produktion entkoppelt: Die Produktion stieg seit 1990 um 58 Prozent, während der Energieeinsatz um 20 Prozent sank. Gleichzeitig verringerte die Chemie den Kohlendioxid-Ausstoß um die Hälfte – und baute gleichzeitig ihre gute Position auf dem Weltmarkt aus. Deshalb ist klar: Es liegt im ureigenen ökonomischen Interesse eines Unternehmens, effizient mit den Ressourcen umzugehen und ökologisch zu wirtschaften.
Doch wir dürfen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und die Belastbarkeit der Industrie nicht durch übertriebene Ökologie testen. Denn eine De-Industrialisierung können wir uns nicht leisten. Deshalb pochen wir neben der ökologischen gleichrangig auf die ökonomische und soziale Dimension.
Ein Schlüssel zum Erfolg auf Dauer kann die Blue Economy sein. Dahinter steht ein Konzept, das die Ökosysteme schützt und zugleich neue Arbeitsplätze schafft. Blue Economy versteht Emissionen und Abfälle als fehlgeleitete Ressourcen. Sie propagiert eine Wirtschaftsweise, die ihre sozialen, ökonomischen und ökologischen Grundlagen immer wieder neu reproduziert.
Die Blue Economy, eine Weiterentwicklung der Green Economy, entspricht nicht dem romantischen Bild kleiner regionaler Selbstversorgergemeinschaften, in denen es nur selbstlose und gemeinwohlorientierte Unternehmen gibt. Blue Economy akzeptiert, dass unsere Wirtschaft komplex, arbeitsteilig und international verflochten ist. Der neue Fortschritt führt von produktionsorientierten Dienstleistungen hin zu dienstleistungsorientierter Produktion.
Industrie und ihre nötige Infrastruktur sind natürlich auch im Industrieland NRW nicht immer und überall willkommen. Um Konflikte zwischen Unternehmen, Kommunen und Bürgern jedoch zu entschärfen oder gar nicht erst entstehen zu lassen, suchen wir einen partnerschaftlichen Ansatz mit der Bevölkerung. Konkret: Wir haben beim Wirtschaftsministerium eine Geschäftsstelle „Dialog schafft Zukunft – Fortschritt durch Akzeptanz“ eingerichtet. Sie vermittelt, bevor das Kind in den Brunnen fällt, höchst professionell zwischen Bürgern, Wirtschaft, Politik und Verwaltung.
Wir setzen den industriellen Kern des Landes nicht leichtfertig aufs Spiel. Während andere Staaten eine Politik der De-Industrialisierung betrieben, hat vor allem Nordrhein-Westfalen auf die Modernisierung der Industrie gesetzt. Mit großem Erfolg.
Industrie braucht, wie die gesamte Wirtschaft, neben einer stabilen Infrastruktur eine vielseitige Logistik. Ohne zu übertreiben: NRW kann mit dem Pfund seiner Logistik wuchern. Wir wissen: Produktion und Logistik gehören zusammen.
Unsere traditionellen, starken industriellen Wurzeln werden als Basis für die Entwicklung zukunftsträchtiger Produkte und Dienstleistungen genutzt. So entwickelte sich die Automobillogistik zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig und machte zum Beispiel das Ruhrgebiet zu einer Drehscheibe für die Distribution von Automobilen und Automobilkomponenten.
Die Spitzenposition Nordrhein-Westfalens als Industrie- und Logistikstandort basiert auf verschiedenen Faktoren: die zentrale Lage in Europa, die Nähe zu den großen Seehäfen in Belgien und den Niederlanden, die leistungsfähige Infrastruktur, die große Bevölkerungsdichte und das hervorragende Mitarbeiterpotenzial.
Der Leitgedanke des Wirtschaftsministeriums NRW heißt „Vorausschauende Wirtschaftspolitik“. Sie fasst Innovation und Fortschritt ins Auge. Dabei bekennen wir uns zu unseren industriellen Wurzeln. Nur mit einer leistungsfähigen und innovationsstarken Industrie werden wir Probleme wie weltweite Arbeitsteilung und Spezialisierung, Umwelt- und Klimaschutz, Rohstoffverknappung, demografischer Wandel, aber auch Schuldenkrise und Energiewende meistern können.
Eine hierauf ausgerichtete Innovationskultur macht es notwendig, sich auf weltweit wachsende Leitmärkte zu konzentrieren, in denen NRW vor allem mit Blick auf Wissenschaft und Wirtschaft besondere Stärken und Spezialisierungsvorteile aufweist. Unsere Leitmärkte sind Mobilität und Logistik, Neue Werkstoffe, Maschinen und Anlagenbau/Produktionstechnik, Energie- und Umweltwirtschaft sowie Informations- und Kommunikationswirtschaft.
Die nordrhein-westfälischen Landescluster, das Clustermanagement und die regionalen Netzwerke sind dabei die Treiber. Sie identifizieren Zukunftsthemen, analysieren Trends auf Leitmärkten und organisieren Zusammenarbeit über Clustergrenzen hinweg. So wachsen Innovationen.
Die Europäische Union hat eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum erarbeitet, die Strategie Europa 2020. Sie verlangt eine intelligente, nachhaltige und integrative Wirtschaft. Dazu hat sie für Forschung und Entwicklung, Klimawandel und nachhaltige Energiewirtschaft sowie Bildung konkrete Ziele gesetzt.
Eine wichtige Rolle kommt der Industrie zu. Im neuen Rahmenforschungsprogramn der EU „Horizont 2020“ gibt es das Kapitel „Führende Rolle der Industrie“ – mit den Förderschwerpunkten „Schlüsseltechnologien“, „Zugang zu Risikofinanzierung“ und „Innovationen in KMU“. Gerade bei diesen Themen kann NRW punkten.
Nordrhein-Westfalen war mit seiner Industrie über Jahrzehnte hinweg Innovationsmotor und -treiber über Deutschland hinaus. Damit das so bleibt, brauchen wir eine Industrie mit vielen Facetten. Dazu gehören auch Betriebe, die viel Strom brauchen. Es wäre ein Desaster, wenn Unternehmen unser Land verlassen müssten, weil der Strom hier zu teuer wird – um dann im Ausland zu produzieren, ohne sich groß um Ressourceneffizienz oder Umweltverträglichkeit kümmern zu müssen.
Deutlich gesagt: Wir brauchen alle Betriebe, wir setzen weiter auf eine starke Industrie.
Garrelt Duin
Der Autor wurde 1968 in Leer geboren und studierte in Göttingen und Bielefeld Rechtswissenschaften und Evangelische Theologie. 2000 wurde Duin ins Europaparlament gewählt, bevor er 2005 bis 2012 sein Mandat im Deutschen Bundestag annahm. Seit 2012 ist der Volljurist in Nordrhein-Westfalen Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk.