Herausragende Meilensteine sind mit der Raumfahrt oft durch spektakuläre Ereignisse verbunden, so wie der erste Flug eines Menschen in den Weltraum 1961 oder, nicht einmal zehn Jahre später, die Landung auf dem Mond. Andere Ereignisse, und insbesondere solche von eher irdischer Natur, kommen nicht gleich in den Sinn, wenn man an Raumfahrt denkt. Trotzdem reichen ihre Nachwirkungen bis in die Gegenwart:
Vor 50 Jahren begann in Europa die Zusammenarbeit in der Raumfahrt mit der Gründung der beiden Vorläuferorganisationen der Europäischen Weltraumorganisation ESA. Heute ist ESA die führende Raumfahrtagentur in Europa und eine der wenigen weltweit, die das breite Spektrum der Weltraumaktivitäten vollständig abdecken. Dies reicht von den klassischen Weltraumwissenschaften und der Exploration über Erdbeobachtung und die anwendungsorientierten Felder Navigation und Kommunikation bis zur zentralen Frage nach dem zuverlässigen Zugang zum Weltraum. Dazu gehört insbesondere die Aufgabe, Raumfahrttechnologien von morgen zu entwickeln. Das Weltraumjahr 2014 steht für diese vielfältigen Aufgaben geradezu beispielhaft: Im Januar erwachte die Raumsonde ROSETTA nach einer zehnjährigen Reise durch unser Sonnensystem auf ihrem Flug zum Kometen Churyumov-Gerasimenko, seit August befindet sich die Sonde in unmittelbarer Nähe des Kometen, sodass mit den wissenschaftlichen Untersuchungen begonnen werden konnte. Auf der Internationalen Raumstation ISS, dem bislang größten internationalen technischen Gemeinschaftsprojekt der Menschheit, das sich seit über 15 Jahren in einer nahen Erdumlaufbahn befindet, ist Europa mit zwei Astronauten ein Jahr lang quasi ununterbrochen vertreten. Ende Mai startete der deutsche ESA-Astronaut Alexander Gerst zu seinem sechsmonatigen Aufenthalt in dem außerirdischen Forschungslabor, im November wird er von seiner italienischen Kollegin Samantha Cristoforetti abgelöst werden. Mitte August dockte das Raumfahrzeug „Georges Lemaître“, das letzte Automatische Transferfahrzeug (ATV) vollautomatisch und ebenso problemlos wie seine vier Vorgänger an der ISS an, um die Crew mit lebensnotwendigen Gütern und neuen Forschungsgeräten zu versorgen. Im gleichen Monat wurde ein weiterer GALILEO-Satellit gestartet. Gemeinsam mit der Europäischen Kommission legt die ESA die Grundlagen für ein umfassendes europäisches Navigationssystem, welches die europäische Unabhängigkeit in einem zentralen Bereich sichern wird. Im April startete der erste von insgesamt zehn SENTINEL-Satelliten. Die Beobachtungen dieser SENTINEL-Missionen umfassen die Atmosphäre, die feste Landmasse und die Ozeane und sind somit ein wesentlicher Beitrag zu dem weltumspannenden Bemühen, unsere Erde zum Beispiel auch in der Klimafrage besser zu verstehen. Alle die genannten unbemannten Missionen sind vom europäischen Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guinea auf Ariane- oder Soyuz-Raketen gestartet worden. Im Dezember 2014 wird die Europäische Ministerratskonferenz über die nächste Generation europäischer Trägerraketen entscheiden, um auch in Zukunft Europas Zugang zum Weltraum zu garantieren. Man liegt sicher nicht falsch, wenn man diese Beispiele als eine europäische Erfolgsgeschichte begreift.
Solche Erfolge kommen nicht von ungefähr. Die große Vielfalt der Missionen zeigt das weite Spektrum an Wissen und Können, das in Europa nicht nur in der Agentur ESA, sondern auch bei den Partnern in Wissenschaft und Industrie heute vorhanden ist. Doch es wäre zu kurz gegriffen, wenn man diese Erfolge ausschließlich auf die herausragende Arbeit und das Wissen und Können der heutigen Teams zurückführte: Die Erfolge von heute wurden insbesondere auch durch die entsprechenden Entscheidungen vor zehn und mehr Jahren ermöglicht. Und letztlich waren diese politischen Vorgaben nur möglich, weil die Entscheidungsträger eine gemeinsame Sicht der zu erreichenden Ziele hatten und weil Europa über eine leistungsfähige Basis in Wissenschaft und Industrie verfügte, die bei einem vertretbaren Risiko eine realistische Aussicht auf Erfolg solch anspruchsvoller Weltraummissionen versprach. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass wir in der mittelbaren Zukunft nur Erfolge erwarten können, wenn wir heute dafür die Weichen stellen, die gemeinsame Ziele definieren und es wagen, die dazu notwendigen Entscheidungen zu treffen. Gerade in einem Hochtechnologiebereich wie der Raumfahrt gilt, dass Stillstand Rückschritt nach sich zieht. Von der Konzeption einer Weltraummission bis zur Entwicklung und erfolgreichen Durchführung vergehen oft ein oder gar zwei Jahrzehnte. Die Notwendigkeit, über einen so langen Zeitraum Wissen und Können nicht nur zu erhalten, sondern weiterzuentwickeln, macht es unbedingt erforderlich, dass die heranwachsende Generation an Ingenieuren und Technikern die Möglichkeit zum Tun erhält. Europa ist heute gut aufgestellt, um die Herausforderungen der nahen Zukunft zu meistern. Damit dieser Satz auch noch in zehn und zwanzig Jahren seine Gültigkeit behält, sind heute weitreichende Entscheidungen notwendig. Exemplarisch gilt das insbesondere für das Gebiet der Exploration. Alle raumfahrttreibenden Nationen sind sich einig, dass der Mensch in den nächsten zehn Jahren die Erdumlaufbahn verlassen und zu weiteren Zielen aufbrechen wird. Schon heute gibt es eine Vielzahl robotischer Missionen, die unseren Mond und den Mars erkunden – eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass später Menschen in diese Welten vorstoßen können. Dafür gibt es viele gute Gründe: Raumfahrt schafft Wissen und Können, das uns nicht nur bei der Bewältigung raumfahrtspezifischer Probleme, sondern auch hier unten auf der Erde hilft. Der Vorstoß des Menschen in das Weltall wird in breiter internationaler, wenn nicht sogar globaler Zusammenarbeit durchgeführt werden: ein beredtes Zeugnis dafür, dass Raumfahrt Gesprächskanäle in der Politik öffnet oder offen halten kann und in bestem Sinne Völker auf dem ganzen Globus verbindet. Gerade für die „Soft Power“ Europa ist die Beteiligung an einem ebenso anspruchsvollen wie sichtbaren Unterfangen von zentraler Bedeutung, um in der Zukunft auf globaler Ebene Gehör zu finden. Und nicht zuletzt wird der notwendige Druck, neue, innovative Lösungen zu finden, die europäische Industrie nicht nur im Raumfahrtsektor, sondern in vielen weiteren Bereichen stärken.Thomas Reiter war von 1992 bis 2007 ESA-Astronaut und der achte Deutsche im All. In der russischen Raumstation Mir absolvierte er 1995/96 den ersten ESA-Langzeitflug überhaupt. Dabei unternahm er als erster Deutscher einen Weltraumausstieg. Auch auf der ISS war er 2006 der erste europäische Langzeitflieger. Heute ist er ESA-Direktor für Bemannte Raumfahrt und Missionsbetrieb und Leiter des Europäischen Satellitenkontrollzentrums ESOC in Darmstadt.