Ob Personenverkehr oder Güterfracht, der Schienenverkehr hat noch nicht alle Potenziale ausgeschöpft. In Fragen der Nachhaltigkeit macht die Schiene anderen Verkehrsträgern indessen Konkurrenz.
In diesem Jahr begehen das Unternehmen Deutsche Bahn und der gesamte Eisenbahnsektor ein besonderes Jubiläum – 20 Jahre Bahnreform. Die Zusammenlegung von Bundesbahn und Reichsbahn zur privatwirtschaftlich organisierten DB AG war eines der größten und erfolgreichsten Reformprojekte im wiedervereinigten Deutschland. Das primäre Ziel der Bahnreform, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, hat 20 Jahre danach sogar noch an Relevanz gewonnen. Der messbare Klimawandel, der gestiegene Ölpreis, hohe Folgekosten des Straßenverkehrs bis hin zur neuen Anziehungskraft der Innenstädte, in denen Flächen knapp sind und bezahlbare Wohnungen wichtiger werden als zusätzliche Straßen und Parkplätze – all diese Trends liefern Fakten, die immer dringlicher dafür sprechen, die Schienen stärker zu fördern. Die Frage der Zukunft lautet: Wie können wir der steigenden Nachfrage nach Gütertransporten, dem Hunger nach Mobilität und den wachsenden Ansprüchen an eine lebenswerte Umwelt gleichzeitig gerecht werden? Zur Lösung dieser Herausforderungen ist eine starke, leistungsfähige Schiene unverzichtbar. Deshalb ist es nicht nur ein verkehrs-, sondern auch ein wirtschafts- und umweltpolitisches Anliegen, den Erfolg der Bahnreform fortzuschreiben und weiter auszubauen. Zur Erinnerung: Personen- und Güterzüge wurden in Ost wie West zu Beginn der 1990er Jahre kaum noch genutzt. Doch seit 1994 hat die Verkehrsleistung im Personenverkehr wieder um 36 Prozent zugenommen, im Güterverkehr sogar um 56 Prozent. Im gleichen Zeitraum musste der Bund 19 Prozent weniger Mittel für das Eisenbahnwesen aufbringen. Auch in Sachen Marktöffnung ist Deutschland heute Vorreiter. Jeder vierte Regionalzug wird von einem Wettbewerber der DB betrieben. Im Schienengüterverkehr liegt der Anteil sogar bei 29 Prozent. In diesem Jahr sind mehr als 390 Bahnunternehmen auf dem deutschen Netz unterwegs – neuer Rekord. Nicht ohne Grund gilt das Modell der DB AG in anderen Ländern als Vorbild für die Organisation eines effizienten Eisenbahnbetriebs. Auch bei der Modernisierung der Eisenbahninfrastruktur wurden in den vergangenen 20 Jahren Meilensteine gesetzt. In anderthalb Stunden von Berlin nach Hamburg, in einer Stunde von Frankfurt am Main nach Köln oder mit Tempo 300 von München nach Ingolstadt – auf vielen Relationen ist die Bahn schon allein aufgrund der Schnelligkeit das attraktivste Verkehrsmittel. Trotz dieser Erfolge bleibt noch viel zu tun. Schließlich hat auch die EU der Eisenbahn eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung nachhaltiger Verkehrsnetze zugeschrieben. In ihrem Weißbuch Verkehr formuliert die EU-Kommission: Bis 2030 sollen 30 Prozent des Straßengüterverkehrs über 300 Kilometer Entfernung auf umweltfreundlichere Verkehrsträger wie die Schiene verlagert werden – bis 2050 sogar mindestens 50 Prozent. Bis dahin müsse auch der Großteil der Personenbeförderung über mittlere Entfernungen auf die Eisenbahn entfallen. Die Deutsche Bahn begegnet diesen Herausforderungen mit ihrer Unternehmensstrategie DB2020. Ziel ist es, die unternehmerische und verkehrliche Erfolgsbilanz seit der Bahnreform nachhaltig abzusichern. Im Rahmen der Strategie DB2020 investiert die Deutsche Bahn gemeinsam mit dem Bund allein in den kommenden fünf Jahren rund 50 Milliarden Euro – so viel wie nie zuvor in der Geschichte des Unternehmens. Zwei Drittel fließen in die Infrastruktur in Deutschland und ein weiteres Drittel fast vollständig in neue Züge, um das Reisen auf der Schiene noch zuverlässiger und komfortabler zu machen. Über die unternehmerischen Anstrengungen der DB hinaus sind jedoch Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine weitere Verlagerung des Verkehrswachstums in Richtung Schiene ermöglichen. Zunächst einmal muss in Europa die Diskussion um das Modell der Bahnunternehmen beendet werden.Es gibt ausreichend Erfahrungswerte, die gegen die Trennung von Schienennetz und Bahnbetrieb sprechen. Frankreich hat zum Beispiel erkannt, dass dieser Schritt ein Fehler war. Die Zusammenarbeit im Bahnsektor hat am Ende stark gelitten – zum Leidwesen der Kunden. Nun findet eine Reintegration statt. Das Beispiel Frankreich hat erneut gezeigt, dass für die Leistungsfähigkeit des Bahnsystems und die Entwicklung des Wettbewerbs auf der Schiene nicht die Unternehmensstruktur ausschlaggebend ist. Entscheidend sind vielmehr faire Wettbewerbsbedingungen zwischen den Verkehrsträgern. Daher sollte für die EU-Mitgliedsstaaten der Grundsatz der Modelloffenheit gelten. Dass seit dem 1. April 2013 drei Viertel aller Fernverkehrszüge in Deutschland zu 100 Prozent mit Ökostrom fahren, ist nur eine Errungenschaft des integrierten Modells hierzulande. Dieser Schritt wäre ohne die enge Verflechtung der DB-Geschäftsfelder nicht möglich gewesen. Schon jetzt liegt der Anteil erneuerbarer Energieträger an der Bahnstromversorgung bei 35 Prozent. Bis 2050 sollen sämtliche Züge vollständig mit Strom aus Wind und Wasserkraft fahren. Dieses Vorhaben wird allerdings ein Kraftakt. Denn durch die Neuregelung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) kommen ab 2015 Mehrbelastungen in Höhe von 50 Millionen Euro pro Jahr auf die DB AG zu. Eine Belastung, die andere Verkehrsträger (zum Beispiel Straße, Luftverkehr) nicht zu stemmen haben. Faire Wettbewerbsbedingungen sehen anders aus. Eine gerechtere Energiebesteuerung der verschiedenen Verkehrsträger ist dringend geboten. Ein weiteres Beispiel ist die Zulassungspraxis für Schienenfahrzeuge. Anders als bei Autos und Flugzeugen gelten für Züge in jedem EU-Land eigene Zulassungsvorschriften. Hinzu kommt der geringe Standardisierungsgrad. Jedes Fahrzeug muss einzeln zugelassen werden, jeder Triebwagen separate Testfahrten absolvieren. Die langwierigen Fahrzeugprüfungen sind vor dem Hintergrund steigender Fahrgastzahlen eines der gravierendsten Probleme der Branche – insbesondere in Deutschland. Die auf nationaler Ebene angestoßene Reform des Zulassungsverfahrens muss daher rasch gesetzlich verankert und gelebte Praxis werden. Faire Wettbewerbsbedingungen sind letztlich vor allem eine Frage der Prioritätensetzung beim Infrastrukturausbau. Deutschland ist zwar bei der Betriebsleistung des Schienennetzes absolute Spitze in Europa. Auf der anderen Seite liegen wir aber beim Investitionsvolumen pro Streckenkilometer weit abgeschlagen erst an zehnter Stelle. Dabei steigt die Nachfrage auf der Schiene kontinuierlich, während der PKW- und Flugverkehr innerhalb Deutschlands messbar an Bedeutung verliert. Dieser Trend sollte auch bei der Mittelverteilung berücksichtig werden. Laut Daehre- und Bodewig-Kommission fehlen jedes Jahr 1,4 Milliarden Euro, allein um das Bestandsnetz der DB in einen bedarfsgerechten Zustand zu versetzen. Hier muss Verkehrspolitik gegensteuern. Vor allem müssen Regulierung und Infrastrukturfinanzierung die gleiche Zielsetzung verfolgen. Ob Infrastrukturausbau, Energiebesteuerung oder Fahrzeugzulassung – 20 Jahre nach der Bahnreform zeigt sich immer deutlicher: Die Herausforderungen der Verkehrspolitik erfordern weitreichende und europäische Konzepte für die Eisenbahn. Reise- und Transportketten enden nicht mehr an Ländergrenzen. Markteintritte im Schienenverkehr sind mit erheblichen Investitionen verbunden. Und Infrastrukturprojekte stellen Weichen für Jahrzehnte. Aufgabe der Regulierung muss sein, die Rechts- und Planungssicherheit für alle Marktteilnehmer zu erhöhen, mehr Wettbewerbsgerechtigkeit herzustellen und Anreize für Investitionen zu schaffen – auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene gleichermaßen. Schon heute ist die Schiene mit Abstand der energieeffizienteste, umweltfreundlichste und sicherste Verkehrsträger. Und ihre Bilanz wird immer besser. Die Eisenbahn hat im noch jungen 21. Jahrhundert ein neues Gesicht bekommen. Sie steht für Modernität, wirtschaftliche Vernunft und Weitblick. 20 Jahre Bahnreform beweisen schwarz auf weiß: Jeder Euro für die Schiene ist eine nachhaltige Investition in die Zukunft – in Deutschland und in Europa.
Der 1951 in Hamburg geborene Autor ist Vorstandsvorsitzender der Deutsche Bahn AG und der DB Mobility Logistics AG. Nach einem Studium für Fahrzeugtechnik und Flugzeugbau an der FH Hamburg schloss er ein Studium in Berufs- und Wirtschaftspädagogik an und wurde 1986 an der Universität Kassel promoviert. Es folgten leitende Stationen bei MBB, DASA, DaimlerChrysler, bevor er 2009 die Leitung des DB-Konzerns übernahm.