Der demografischer Wandel und der damit verbundene Fachkräftemangel in der deutschen Wirtschaft macht nicht nur austarierende Maßnahmen der Politik erforderlich. Auch die Wirtschaft entwickelt zunehmend Rezepte und Instrumente, um mit der Situation umgehen zu können.
Wäre Nordrhein-Westfalen ein eigenständiger Staat, so belegte seine Wirtschaft weltweit den 18. Rang. Als exportstärkstes Bundesland hatte NRW im Jahr 2013 mit rund 180 Milliarden Euro einen Anteil von 16,4 Prozent am deutschen Export. Im Ranking „European Cities and Regions of the Future 2014/15“ des fDi Magazine der britischen Wirtschaftszeitung Financial Times gilt NRW unter 468 Investitions- und Wirtschaftsstandorten in Europa als attraktivster: Platz 1 in der Kategorie „European Region Overall“ vor den Regionen Schottland und Kopenhagen und auch der Ile de France. Jährlich rund 200 Milliarden Euro Direktinvestitionen aus dem Ausland belegen die Attraktivität NRWs für internationale Investoren.
NRW-Mittelstand schultert einen Großteil der dualen Ausbildung. Zwar sind 19 der größten 50 Unternehmen in Deutschland in NRW zu Hause. Das Wirtschaftsleben jedoch, prägt der Mittelstand. Rückgrat der heimischen Wirtschaft sind die vielen kleinen und mittleren Unternehmen: Sie machen 99,6 Prozent der Unternehmen aus, sind Arbeitgeber für ca. 60 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und knapp 82 Prozent der Auszubildenden (Institut für Mittelstandsforschung, Bonn, 2012). Allein rund 191.000 Auszubildende werden derzeit in den durch die IHKs betreuten Berufen ausgebildet.
Die kleinen und mittleren Unternehmen schultern nicht nur den Löwenanteil in der Ausbildung. Sie sind auch innovativ und strategisch exzellent aufgestellt: Mindestens 150 sind als „Hidden Champions“ welt- oder europaweit Marktführer in ihrem Segment. In keiner anderen Region Europas gibt es so viele wissenschaftliche Einrichtungen auf so engem Raum wie in NRW: Vom Know-how der 67 Hochschulen, 26 Institute der Fraunhofer- sowie der Max-Planck-Gesellschaft und von den etwa 100 Forschungsinstituten sowie den zurzeit 490.000 Studierenden profitiert in hohem Maße die heimische Wirtschaft.
Demografischer Wandel – Herausforderung für die NRW-Wirtschaft. Die heimische Wirtschaft kann sich nur auf dem Binnenmarkt und den Weltmärkten behaupten, wenn es ihr gelingt, den technischen Fortschritt ständig voranzutreiben. Dafür braucht es Personal, das neue Produkte entwickelt, aber auch produziert, also Fachkräfte. In einer schrumpfenden, weil alternden Gesellschaft wird die Rekrutierung von Fachkräften zukünftig aber immer schwieriger. Allein NRW wird 2030 gegenüber heute knapp elf Prozent weniger Fachkräfte haben. 2050 gar, sind gut 22 Prozent weniger im arbeitsfähigen Alter zwischen 19 und 65 Jahren. Das zeigt der Fachkräftereport 2014 für NRW, den die IHK NRW erstellt hat, basierend auf 4.000 Antworten von Unternehmen. Aus heutiger Sicht prognostiziert der Fachkräftemonitor NRW (www.fachkraeftemonitor-nrw.de), dass 2020 bereits 379.000 Fachkräfte fehlen werden, 2030 sogar 827.000. Besonders betroffen ist dabei der Bereich der beruflich qualifizierten Fachkräfte, sie stellen mit ca. 350.000 in 2020 bzw. ca. 791.000 in 2030 den weitaus größten Anteil der fehlenden Fachkräfte. Dabei trifft es die Regionen NRWs sehr unterschiedlich. Während einige Regionen auch in den kommenden Jahrzehnten noch weiter wachsen werden, sind andere bereits heute mit rückläufigen Einwohnerzahlen konfrontiert.
Diese Entwicklung ist sicherlich ein Alarmzeichen, aber kein Grund für Schwarzmalerei. Denn viele Regionen und Unternehmen in NRW haben die Entwicklung erkannt und haben heute schon Wege eingeschlagen, um sich für die raueren Marktverhältnisse zu wappnen.
Fachkräftemangel als wirtschaftliches Risiko? An der Sicherung des Fachkräftebedarfs kommt die heimische Wirtschaft nicht vorbei. Unternehmen haben es aber immer schwerer, überhaupt Auszubildende zu finden: Zur demografischen Entwicklung kommt dazu, dass immer mehr Schüler einen Hochschulabschluss anstreben und ihn auch machen (2030: 78 Prozent). Akademiker machen dann nur rund fünf Prozent des Fachkräfteengpasses aus, zu mehr als 90 Prozent aber fehlen beruflich qualifizierte Fachkräfte! Deshalb fordert die IHK NRW: Die betriebliche Ausbildung muss attraktiver werden, damit alle Jugendlichen – auch Abiturienten – eine Lehre als gleichwertige Alternative zu einem Studium in Betracht ziehen.
Wie wichtig das ist, zeigen IHK-Umfragen. Bereits jetzt halten 31 Prozent der Unternehmen den Fachkräftemangel für ein wirtschaftliches Risiko, besonders kleinere Unternehmen: Fast zwei Drittel der Unternehmen geben an, dass ihre Bewerberzahlen auf Ausbildungsplätze rückläufig sind. Über 23 Prozent der befragten Unternehmen können nicht alle ihre Ausbildungsplätze mit geeigneten Bewerbern besetzen.
Hierbei sind die Branchen und Regionen unterschiedlich betroffen: Einige können die demografische Entwicklung durch Zuzug abschwächen, andere haben bereits Engpässe. Bezogen auf ganz NRW haben heute schon Unternehmen in einigen Zweigen mit Fachkräftemangel zu kämpfen, in der Bauwirtschaft (45 Prozent) etwa oder der Gesundheitswirtschaft (47 Prozent), Industrieunternehmen sind unterschiedlich stark betroffen.
Unternehmen sind aktiv: Instrumente zum Gegensteuern. Bevor Unternehmen gegensteuern können, muss zunächst die Lage analysiert werden. Hierzu hat die IHK NRW den IHK-Demografierechner entwickelt. Mit dieser Web-Anwendung (http://www.demografierechner-nrw.de) lässt sich individuell und einfach für jedes Unternehmen zeigen, wann und in welchen Abteilungen oder Berufsgruppen die Altersstruktur zu Problemen führen kann.
Viele Unternehmen in NRW haben das Problem längst erkannt. Sie reagieren auf vielfältige Weise, um ihren Fachkräftebedarf zu sichern: durch mehr Aus- und Weiterbildung (53 Prozent bzw. 51 Prozent) etwa, flexible Arbeitszeitmodelle (37 Prozent) die Einstellung älterer Arbeitnehmer (26 Prozent) oder Arbeitnehmer aus dem Ausland (16 Prozent) sowie Regelung zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf (24 Prozent).
Von der Weiterbildung bis zum Employer Branding. Die NRW-Wirtschaft ist gut gewappnet: Die Unternehmen investieren schon heute jährlich hohe Summen, um Nachwuchs auszubilden und ihre Mitarbeiter zu qualifizieren. Zum Ausbildungsjahr 2013/2014 nahmen bereits über 3.000 Unternehmen an insgesamt rund 80 von den IHKs ganz oder teilweise organisierten Veranstaltungen zum Recruiting von Auszubildenden teil.
Um mit der rasanten Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung Schritt zu halten und die Mitarbeiter auf neue Aufgabenfelder vorzubereiten, gewinnt die berufliche Aus- und Weiterbildung einen immer höheren Stellenwert und verlangt auch von Arbeitnehmern und Auszubildenden Lernfähigkeit und -bereitschaft.
Im zunehmenden Wettbewerb um die besten Kräfte setzen immer mehr Unternehmen (37 Prozent) auf Alleinstellungsmerkmale als attraktive Arbeitgeber – Stichwort „Employer Branding“. Dazu reicht heute allein weder die gelungene Gestaltung einer Stellenanzeige aus noch die Höhe des gezahlten Gehaltes. Zunehmend erwarten Fachkräfte von ihrem Arbeitgeber, dass dieser Konzepte anbietet, bei denen Ökonomie, Mensch und Natur im Einklang gesehen werden. Außerdem erkennen und schätzen immer mehr Unternehmen die Erfahrung ihrer älteren Mitarbeiter (26 Prozent) und suchen nach Möglichkeiten, diese über den Ruhestand hinaus zu binden. Durch die Einrichtung altersgemischter Teams, bei denen sich Erfahrungsreichtum und aktuelles Fachwissen gut ergänzen, lässt sich nicht nur die Effizienz von Arbeitsabläufen steigern, sondern auch das Firmenwissen erhalten. Die Sicherung des betrieblichen Know-hows sehen 44 Prozent der Unternehmen als vorrangige Aufgabe an.
Genügend Fachkräfte sichern erfolgreiches Wirtschaften in NRW. Gut qualifizierte Arbeitskräfte sind eine wesentliche Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand in Nordrhein-Westfalen. Auch Politik kann sehr wohl die Unternehmen bei der Sicherung ihres Fachkräftebedarfs unterstützen. Ein flexibles Kinderbetreuungsangebot von der Kita bis zur Nachmittagsbetreuung in Schulen kann die Berufstätigkeit in Familien deutlich vereinfachen. Günstige Rahmenbedingungen können die Erwerbschancen für Ältere, Migranten oder Lernschwächere deutlich steigern.
Gemeinsam wird NRW den Herausforderungen des demografischen Wandels erfolgreich begegnen.
Dr. Ralf Mittelstädt
Der Autor wurde 1960 in Brakel, Kreis Höxter, geboren und hat in Göttingen ein geowissenschaftliches Studium absolviert. Nach seiner Promotion hat er verschiedene berufliche Stationen durchlaufen, zuletzt als Geschäftsführer der Handelskammer Bremen. Seit 2009 ist er Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammern NRW.