Der Bedarf an Fach- und Führungskräften wird in Niedersachsen in den nächsten Jahren bedeutend zunehmen. Die Engpässe konzentrieren sich bislang zwar auf bestimmte Regionen, Branchen und Berufe, dennoch mehren sich die Anzeichen für eine breite Fachkräftelücke. Mit dem voranschreitenden demografischen Wandel wird sich die Lage weiter verschärfen. Der Nachwuchs wird weniger, die Belegschaften werden älter. Besonders steigt die Nachfrage nach Akademikern und Hochqualifizierten. Die besonders guten unter ihnen, die sogenannten „High Potentials“, werden auf dem Arbeitsmarkt immer schwerer verfügbar. Was bedeutet diese Entwicklung für Niedersachsen, dessen Wirtschaft auf Innovationsfähigkeit und damit auf High Potentials angewiesen ist, und welche Herausforderungen werden auf uns zukommen?
Als High Potentials betrachtet man junge Hochschulabsolventen einer renommierten Universität, welche zu den besten sechs bis zehn Prozent ihres Jahrgangs gehören. Sie zeichnen sich durch überdurchschnittliche Examina, Auslandsaufenthalte, Sprachkenntnisse, Praktika und soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit und Kommunikationsstärke aus. Studien belegen, dass es Unternehmen zunehmend schwerer fällt, geeignete Kandidaten für sich zu rekrutieren.
Besonders deutlich wird diese Entwicklung bereits in den MINT-Bereichen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). Alleine der Ersatzbedarf für altersbedingt ausscheidende Fachleute in diesen Branchen erfordert enorme Kapazitäten an hochqualifiziertem Nachwuchs. Zurzeit bilden deutsche Hochschulen nur rund 88.000 MINT-Absolventen aus. Gemessen am aktuellen Bedarf des Arbeitsmarktes in Deutschland sind dies zwischen 12.000 und 22.000 Nachwuchskräfte zu wenig. In Niedersachsen fehlen der Industrie zurzeit gut 11.000 Ingenieure. Aber auch in den Bereichen Marketing und Vertrieb, im Controlling und in der strategischen Unternehmensführung zeichnet sich ein erhöhter Bedarf an High Potentials ab. Das Konkurrenzverhalten der Arbeitgeber zieht spürbar an. Daher ist heute die Frage nach der Qualität der Hochschulausbildung für den Standort Niedersachsen von entscheidender Bedeutung.
Ein gutes Beispiel für ein innovatives universitäres Konzept, welches dem Bedarf der Region entspricht, ist der Verbund der Niedersächsischen Technischen Hochschule (NTH). Unter dem Dach der NTH haben sich die Technische Universität Braunschweig, die Technische Universität Clausthal-Zellerfeld sowie die Leibniz Universität Hannover zu einer Allianz zusammengeschlossen.

Absolventen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer haben nach dem
Studium in der Regel hervorragende Berufsaussichten.

Absolventen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer haben nach dem
Studium in der Regel hervorragende Berufsaussichten.
Statt untereinander zu konkurrieren, arbeiten die drei Hochschulen kooperativ zusammen. Speziell bei der Entwicklungsplanung in den natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächern stimmen sich die Universitäten aufeinander ab. Seit 2011 wird mit dem Master-Studiengang Energiewirtschaft eine zusätzliche Bildungsinnovation an der Technischen Universität Clausthal-Zellerfeld angeboten. Eine international attraktive Anlaufstelle für Studieninteressierte ist die GISMA Business School in Hannover. Dank ihres Studienkonzeptes sowie durch zahlreiche Partner und Sponsoren aus Politik und Wirtschaft ist sie eine der führenden Business Schools in Europa. Sie wurde 1999 auf Initiative des Landes Niedersachsen gegründet und ist seit Sommer 2011 ein An-Institut der Leibniz Universität Hannover. Gemeinsam mit dem akademischen Partner Purdue University in West Lafayette (Indiana, USA) werden drei englischsprachige MBA-Programme (Vollzeit-, Executive- und Wochenend-MBA) angeboten. Die Schwierigkeiten, denen Unternehmen bei der Suche nach hochqualifizierten Mitarbeitern zukünftig entgegensehen, werden auch auf Unternehmensseite zu einem Umdenken führen. So wird die Entwicklung und Qualifizierung von Mitarbeitern zukünftig eine größere Rolle spielen. Ob sich die erhöhte Nachfrage nach High Potentials für ein Unternehmen bewährt, wird die weitere Entwicklung zeigen. Denn auch der qualifizierteste Mitarbeiter garantiert dem Unternehmen nicht zwangsläufig, dass er den Anforderungen gerecht wird. So können sich auch Absolventen mit guten und durchschnittlichen Noten durch besondere Fähigkeiten, wie eine hohe soziale Kompetenz, auszeichnen und sich im Unternehmen zu Top-Mitarbeitern entwickeln. Um diese Mitarbeiter frühzeitig zu binden, werden Unternehmen vermehrt den Kontakt zu den Studierenden herstellen müssen. Unternehmen in Niedersachsen zeigen schon jetzt ein verstärktes Bildungsengagement und klinken sich in die Hochschulausbildung ein. Mit dem Ausschuss HochschuleWirtschaft bieten die Unternehmerverbände Niedersachsen (UVN) eine Plattform zum Austausch, um innovative Kooperationsprojekte anzustoßen. Ziel des Ausschusses ist es, Unternehmens- und Wirtschaftsvertreter an einen Tisch zu bringen, ihre Zusammenarbeit zu aktivieren, Synergien zu heben und politisch sinnvolle Initiativen wie die Offene Hochschule zu unterstützen.
Von den Kooperationen der Unternehmen mit Universitäten profitieren alle. So können Studenten bereits in der Hochschulausbildung praxisnahe Erfahrungen sammeln. Für eine weitere Durchlässigkeit der beruflichen zur universitären Bildung muss zudem der Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte erleichtert werden. Dabei kommt es darauf an, dass insbesondere die Offene Hochschule eingeführt und entsprechend umgesetzt wird. Es ist erforderlich, dass die Öffnung der Hochschulen nicht nur zu einer Öffnung des Hochschulzugangs für beruflich Qualifizierte führt, sondern auch eine weitere Öffnung der Institution „Hochschule“ für ihr wirtschaftliches und gesellschaftliches Umfeld nach sich zieht. Auf Dauer angelegte Kooperationen zwischen Hochschulen und Unternehmen sind ein Weg, gerade die gesuchten High Potentials in unserem Bundesland zu halten. Besonders mittelständische Unternehmen in Niedersachsen können sich durch eine frühzeitige Bindung der Hochschulabsolventen als attraktive Arbeitgeber präsentieren.

Am LaserAnwendungsCentrum (LAC) in Clausthal entwickeln Forscher neuartige miniaturisierte
photonische Sensorkonzepte für den Einsatz in der Sicherheits- und Energietechnik.

Für praxisnahe Forschung stehen am Braunschweiger Institut für Fahrzeugtechnik gut ausgestattete Werkstätten zur Verfügung.
Im Wettbewerb mit anderen Bundesländern kann Niedersachsen nur dann ein attraktiver Standort bleiben, wenn weiterhin für die Offenheit und Innovationsfähigkeit des Landes geworben wird. Niedersächsische Unternehmen liegen in vielen Technologiefeldern, nicht nur in Deutschland, sondern auch international, bereits an der Spitze. Durch Niedersachsens zentrale Lage in Deutschland und Europa sowie seine herausragende Infrastruktur von Straßen, Schienen und Wasserwegen bildet das Land einen Dreh- und Angelpunkt des transeuropäischen Warenstroms. Zudem bietet Niedersachsen schon heute bundesweit die besten geologischen und technologischen Voraussetzungen im Bereich der konventionellen und vor allem der erneuerbaren Energietechnologien. Zusätzlich zeichnet sich das Land als eines der wichtigsten europäischen Zentren der Automobilindustrie aus. Die Metropolregion Hannover/Braunschweig/Göttingen/Wolfsburg gehört mit ihrem Know-how zu den größten Ballungsräumen der Automobilwirtschaft in Deutschland. In diesem Bereich ist – verbunden mit einer dichten Forschungs- und Entwicklungsinfrastruktur – ein enges Netz an Zulieferbetrieben entstanden. Ob Bio-, Energie-, Medizin- oder Messtechnik, Material- oder Werkstofftechnik, dank der zahlreichen Einrichtungen in Forschung und Entwicklung bietet Niedersachsen potenziellen Investoren, Unternehmen sowie den Studierenden ein effizientes Netzwerk für einen exzellenten Wissenstransfer.
Damit Niedersachsen ein wirtschaftlich starkes und innovatives Bundesland bleibt, muss die Ausrichtung des Studienangebots auf den Bedarf der Wirtschaft weiter gefördert werden. Gerade der Verbund NTH und internationale Studienangebote wie die der GISMA zeigen, dass ein Zusammenschluss einzelner Einrichtungen effizient das vorhandene Know-how strukturiert und somit insgesamt qualitativ aufwertet. Nicht zuletzt baut der niedersächsische Mittelstand auch auf die zahlreichen gut ausgebildeten Fachkräfte. Wollen wir im internationalen Wettbewerb mithalten, müssen wir ganz besonders diese Potenziale weiter qualifizieren und fördern. Das Ziel muss der direkte Übergang in den Beruf sein, bei dem die Stärken des Einzelnen bereits in der Schule aufgegriffen und in der Ausbildung weiter definiert werden. Bildung als ein zentraler Wirtschaftsfaktor ist dabei der Schlüssel zum Erfolg.
Der 1955 in Saarbrücken geborene Autor studierte Jura und Soziologie. Parallel zu seiner Promotion und Zulassung als Rechtsanwalt übernahm er 1985 die stellvertretende Geschäftsführung des Instituts der Norddeutschen Wirtschaft (INW) und wurde 1992 ebenfalls zum stellvertretenden Hauptgeschäftsführer der Unternehmerverbände Niedersachsen (UVN) ernannt. Seit Juli 2000 steht Müller an der Spitze der UVN sowie des INW.