In Afghanistan ist nichts so, wie es auf den ersten Blick aussieht. Die zehnjährige Partnerschaft zwischen Afghanistan und der Weltgemeinschaft hat das Land von einem international geächteten Außenseiter zu einem modernen islamischen Staat gemacht, der eine positive Wirtschaftsentwicklung, zunehmend professionell ausgebildete Sicherheitskräfte und einen gestiegenen allgemeinen Lebensstandard aufweist. Der Teufelskreis der Gewalt konnte jedoch noch nicht durchbrochen werden. Daher ist der Einsatz von Sicherheitskräften weiterhin nötig, denn sie ermöglichen Verbesserungen der Staatsführung, der sozioökonomischen Entwicklung und der Lebensumstände. Dies wiederum stärkt die Legitimität der afghanischen Regierung.
Allerdings ist auch klar, dass allein militärische Mittel die Aufständischen nicht bekämpfen können. Um den Ursachen für Aufstände entgegenzuwirken, hat die Regierung in verschiedenen Ministerien mithilfe sogenannter „Cluster-Koordinatoren“ daher in Nationalen Prioritätsprogrammen (National Priority Programs – NPPs) Entwicklungsprioritäten festgelegt. 15 solcher NPPs wurden kurz vor der Bonner Afghanistan-Konferenz am 5. Dezember 2011 vom Gemeinsamen Koordinations- und Überwachungsausschuss (Joint Coordination and Monitoring Board – JCMB) verabschiedet. Schwerpunkte der NPPs sind die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität und Entwicklung ländlicher Gebiete, Ausbildung von Fachkräften und Schaffung von Arbeitsplätzen, Aufbau der Infrastruktur zur Belebung der Konjunktur, Verbesserung des Geschäftsklimas für Investoren, Effizienzsteigerung bei Behörden, Eindämmung der Korruption und Sicherung der rechtsstaatlichen Ordnung im ganzen Land. Die afghanische Regierung hat dabei klare, messbare Ziele vereinbart und arbeitet hart an ihrer Umsetzung. Dabei unterstützen sie internationale Partner, die dem afghanischen Volk zur Seite stehen.
Wenngleich in Afghanistan nach wie vor verbreitet Armut herrscht, sind die bisher zusammen mit der internationalen Gemeinschaft erreichten Erfolge beeindruckend. In den letzten zehn Jahren hat Afghanistan:
- den Anteil der Bevölkerung mit Zugang zu medizinischer Grundversorgung von acht auf über 60 Prozent erhöht,
- 8.000.000 Jugendlichen eine Schulbildung ermöglicht; über 157.000 Studierende erwarben 2011 einen Hochschulabschluss,
- fast 2.000 Kilometer neue Straßen gebaut und damit die Fahrtdauer zwischen den Zentren um 75 Prozent verkürzt. Bis 2014 soll die Ringstraße, die Hauptverkehrsader des Landes, fertiggestellt werden und Afghanistan seine Brückenfunktion in Asien zurückgeben,
- die Zahl der Anschlüsse an das Stromnetz um 250 Prozent erhöht. Der afghanische Energieversorger hat sich zu einem effizienteren, gut geführten Unternehmen entwickelt,
- 80 Prozent der Bevölkerung den Zugang zu Telekommunikationsdiensten ermöglicht,
- mit dem National Solidarity Programme begonnen, die Regierungsarbeit auf regionaler und lokaler Ebene zu verbessern, indem Gemeinden ermächtigt wurden, selbst über die Verwendung von 1,2 Milliarden US-Dollar für örtliche Schwerpunktprojekte zu entscheiden,
- neue demokratische Institutionen geschaffen und unter schwierigen Umständen Parlaments- und Regierungswahlen abgehalten,
- seine Wirtschaftsleistung von 180 US-Dollar pro Kopf im Jahr 2001 auf inzwischen über 530 US-Dollar erhöht,
- die Gesamtinvestitionen zwischen 2008 und 2010 um über 50 Prozent auf etwa 600 Millionen US-Dollar pro Jahr gesteigert, während die ausländischen Direktinvestitionen um 73 Prozent gestiegen sind und annähernd 200 Millionen Dollar betragen,
- das Entstehen eines lebendigen Gemeinwesens vorangebracht, in dem die offene Meinungsäußerung zur Selbstverständlichkeit wird,
- freie Medien gefördert, in denen unterschiedliche Ansichten öffentlich diskutiert werden.
Die Rolle der Frau in der afghanischen Gesellschaft wandelt sich: 39 Prozent unserer Schüler/-innen sind Mädchen; erfolgreiche Frauen übernehmen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Führungspositionen und haben eine Vorbildfunktion inne.
Während des letzten Jahres ist die Übergabe der Sicherheitsverantwortung spürbar vorangeschritten: In sieben Provinzen sind nun die Afghanen selbst für ihre Sicherheit verantwortlich. Die zweite Phase der sogenannten Transition wurde Ende 2011 angekündigt: damit werden einheimische Sicherheitskräfte bald die Verantwortung für die Sicherheit von etwa 50 Prozent der Bevölkerung übernommen haben. Wir haben weiter an der Generierung von Staatseinnahmen und am Aufbau der staatlichen Finanzverwaltung gearbeitet und unsere Steuereinnahmen allein im Jahr 2010 um 27 Prozent und seit 2009 um insgesamt 150 Prozent erhöht. Unsere Wirtschaft ist robust: Sie ist im laufenden Finanzjahr trotz der weltweiten Konjunkturabschwächung um über acht Prozent gewachsen und wächst seit 2002 jährlich um durchschnittlich neun Prozent. Wir haben im Bergbau die Voraussetzungen für ausländische Investitionen geschaffen, Maßnahmen zur Verbesserung des Geschäftsklimas getroffen und bei der Vergabe von Konzessionen zum Erzabbau transparente Verfahren angewandt, unter anderem bei den Eisenerzlagern von Hajigak. Allein aus diesem Vertrag werden voraussichtlich zehn Milliarden US-Dollar an ausländischen Direktinvestitionen ins Land fließen.
Die zehnjährige Partnerschaft zwischen Afghanistan und der internationalen Gemeinschaft hat dem afghanischen Volk – und der ganzen Region – enorm geholfen. Die Regierung der Islamischen Republik Afghanistan verfolgt das Ziel, auf der Grundlage dieser Partnerschaft eine nachhaltige, von der Hilfe internationaler Geberländer zunehmend unabhängige Volkswirtschaft aufzubauen. Das bleibt wegen der Schäden aus dem jahrzehntelangen Krieg und des Entwicklungsrückstands eine gewaltige Aufgabe. Die afghanische Regierung setzt sich für den Aufbau eines sicheren, florierenden, demokratischen Staates ein: auf der Basis von finanziell solidem, privatwirtschaftlich getragenem Wachstum, effizient und transparent arbeitenden staatlichen Institutionen und einer auf Gegenseitigkeit beruhenden regionalen Zusammenarbeit. Um weitere Reformen zu ermöglichen, werden wir weiterhin Prioritäten setzen und schwierige Entscheidungen treffen. Darüber hinaus werden wir die internationale Hilfe noch effektiver einsetzen, um folgende Ziele zu erreichen:
- Stärkung der staatlichen Leistungsfähigkeit durch Strukturreformen, die die Arbeit staatlicher Institutionen verbessern,
- Verbesserung der staatlichen Finanzverwaltung und der Haushaltsdurchführung sowie Erhöhung der Staatseinnahmen, unter anderem durch die schrittweise Einführung einer Mehrwertsteuer,
- Bekämpfung der Korruption durch erhöhte Transparenz und stärkere Rechenschaftspflichten,
- Schaffung verlässlicher Rahmenbedingungen für private Investitionen, auch für Public-Private-Partnerships in sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsprojekten, untermauert durch gesetzliche und institutionelle Reformen, sowie einen stabilen Finanzsektor,
- Entwicklung von Strategien zur Senkung der Sicherheitskosten in enger Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft.
Fortschritte bei der Realisierung dieser Zielvorgaben sind unabdingbar, damit wir die angestrebten Verbesserungen in den Bereichen Sicherheit, Regierungsführung und Entwicklung erreichen. Nach unserer Überzeugung sind klare, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft vereinbarte Zielsetzungen am besten geeignet, um die Ergebnisse unserer Anstrengungen fortlaufend überprüfen zu können. Deshalb verpflichtet sich die afghanische Regierung, mithilfe der internationalen Gemeinschaft:
- Afghanistans Position im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International innerhalb von drei Jahren von derzeit Rang 176 auf Rang 150 zu verbessern,
- unseren Ranking-Platz im Doing Business Report der International Finance Corporation (IFC) innerhalb von drei Jahren um 15 Positionen zu verbessern und uns in keinem der zehn Einzelindikatoren zu verschlechtern,
- die Steuerquote im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt innerhalb von vier Jahren von 11 auf 15 und bis zum Jahr 2025 auf 20 Prozent zu erhöhen,
- innerhalb von fünf Jahren: die Verwaltung öffentlicher Mittel, gemäß PEFA-Bewertung, um 20 Prozent zu verbessern, die transparente und nachvollziehbare Verwendung öffentlicher Mittel, laut Open Budget Index, auf
- 40 Prozent und die Durchführung des Haushaltsplans auf 75 Prozent zu verbessern,
- die Bewertung unseres Landes laut Human Development Index des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) innerhalb von drei Jahren um 25 und innerhalb von zehn Jahren um 50 Prozent zu verbessern.
Die afghanische Regierung ist davon überzeugt, dass diese Verpflichtungen realistisch und mit der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft auch erreichbar sind.
Der auf der Konferenz von London im Januar 2010 eingeleitete und auf der Konferenz von Kabul im Juli 2010 beschlossene Kabuler Prozess schafft die Rahmenbedingungen dafür, dass die afghanische Regierung auf der Basis von Partnerschaft und gegenseitiger Verpflichtungen die volle Verantwortung für Sicherheit, Entwicklung und Regierungsführung übernehmen und ein sicheres Land mit einer nachhaltigen Wirtschaft verwirklichen kann. Die afghanische Regierung wird den Kabul-Prozess vorantreiben, um – gemeinsam mit der noch nötigen Unterstützung durch die internationalen Geber – die gesteckten Ziele zu erreichen. Dabei wird sie Strategien entwickeln und Maßnahmen ergreifen, um: (a) durch die Erschließung von Einnahmequellen eine solide finanzielle Basis zu schaffen und die dafür notwendige zukunftsfähige, aus dem afghanischen Haushalt finanzierbare Infrastruktur zu schaffen, (b) durch Reformen und den Aufbau der erforderlichen Institutionen eine effiziente Regierung zu gewährleisten, (c) die Produktivität der Landwirtschaft und der ländlichen Gebiete zu steigern, um Wachstum, Wohlstand und eine bessere Lebensmittelversorgung zu erreichen, (d) Rechtsstaatlichkeit und verbesserte gesetzliche Rahmenbedingungen sicherzustellen, (e) ein günstiges Umfeld für privatwirtschaftlich getragenes Wachstum und private Investitionen herzustellen; dazu gehören ein starker Finanzsektor, Zugang zu Kapital und transparente, verlässliche Rechtsgrundlagen, (f) Fachkräfte auszubilden, (g) Wirtschaft und Gesellschaft durch bessere Beschäftigungsmöglichkeiten zu stabilisieren, (h) durch Initiativen wie die Neue Seidenstraße und das Central Asia Regional Economic Cooperation (CAREC)-Programm die wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Region zu stärken und so Handel, Warenverkehr, erweiterten Marktzugang und Wirtschaftswachstum zu fördern.
Diese Strategie wird schrittweise umgesetzt, und die Regierung von Afghanistan ist dabei nicht nur im Sicherheitsbereich vorerst weiterhin auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen, um die hinsichtlich Regierungsführung und Entwicklung vereinbarten Ziele zu erreichen. Dazu müssen bestehende Verpflichtungen erfüllt und die – im Gleichklang mit einem immer leistungsfähigeren afghanischen Staatshaushalt künftig abnehmenden – internationalen Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit so effizient wie möglich eingesetzt werden.
Die internationale Unterstützung wird Afghanistan dabei helfen, die folgenden vereinbarten Ziele zu erreichen:
- Bis zum Jahr 2015 übernimmt Afghanistan die volle Verantwortung für seine Sicherheit und initiiert Entwicklungsinitiativen und -verfahren, um auf diesem Wege die Grundlage für Wirtschaftswachstum sowie fiskalische Stabilität und Nachhaltigkeit zu schaffen.
- Bis 2025 wird Afghanistan imstande sein, außer für den Sicherheitssektor, keine internationale Unterstützung mehr zu benötigen. Ab diesem Zeitpunkt wird es nur noch so viel Hilfe in Anspruch nehmen wie alle anderen am wenigsten entwickelten Länder. Eine robuste und expandierende Bergbauindustrie wird sich bis zum Jahr 2025 entwickeln. Nachhaltige Entwicklung und verbesserte staatliche Dienstleistungen werden Aufstandsbewegungen den Nährboden entzogen haben, und in Abstimmung mit den internationalen Partnerländern wird die Stärke der afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) reduziert.
- Ab dem Jahr 2030 wird Afghanistan in der Lage sein, seine Sicherheitskräfte selbst zu unterhalten, die dann auf einem hochprofessionellen und effizienten Niveau befähigt sind. Die Errungenschaften im Bereich Entwicklung und Regierungsführung werden Afghanistan zu einem Vorbild als ein demokratisches islamisches Entwicklungsland machen.
Die Bonner Konferenz bot der afghanischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft eine ideale Gelegenheit, sich erneut zu ihren gegenseitigen Verpflichtungen zu bekennen, unter afghanischer Führung einen sicheren, eigenständigen afghanischen Staat aufzubauen. Wir danken der internationalen Gemeinschaft für die dabei geäußerte Bereitschaft, weiterhin gemeinsam mit uns an der Umsetzung und fortlaufenden Evaluation der Nationalen Prioritätsprogramme (NPPs) zu arbeiten, mit denen Afghanistan sich zu einer selbsttragenden Volkswirtschaft entwickelt. Wir sind überzeugt, dass diese Programme die Voraussetzungen dafür schaffen, die derzeitigen Ausgaben deutlich zu senken, ohne die erreichten Fortschritte zu gefährden.
Der 1968 geborene Autor machte seinen Bachelor-Abschluss in VWL an der University of Winnipeg, Kanada. An der Queen’s University in Kingston, Ontario, erhielt er den Master. Er promovierte an der Carleton University in Ottawa, an welcher er auch Wirtschaftswissenschaften unterrichtete. Von 2005 bis 2009 war er Präsident und CEO der Afghanistan Investment Support Agency. Im März 2009 wurde Dr. Zakhilwal zum Finanzminister ernannt.