Deutschland hat sich nach der Lehman-Krise schnell erholt. Und auch im derzeitigen Umfeld anhaltender Unsicherheit durch die Schuldenkrise erweist sich das Wachstum hierzulande noch als einigermaßen robust. Da Deutschland für mehr als die Hälfte der EU-Staaten bester Auslandskunde ist, hilft eine solche Entwicklung unseren Nachbarn und Partnern in Europa gleichermaßen. Bereits in den Jahren zuvor haben die deutschen Importe von dort ordentlich zugelegt, Deutschland landet im Zeitraum zwischen den Jahren 2007 und 2011 auf Platz zwei des Einfuhrwachstums aller EU-Staaten. Das belegt, wie falsch der manchmal geäußerte Vorwurf ist, Deutschland als einseitig exportorientiert und als mitverantwortlich für die derzeitige Lage in einigen Euroländern darzustellen.
Was Deutschland aber tatsächlich ist: ein gutes Beispiel für die Wirksamkeit von strukturellen Wirtschaftsreformen. Noch vor zehn Jahren galten wir als Schlusslicht in Europa – „The sick man of Europe“ titelte damals eine namhafte englische Zeitschrift. In dieser schwierigen Phase ist es uns gelungen, die nötigen Schlüsse aus der wirtschaftlichen Stagnation Anfang der 2000er Jahren zu ziehen und mit teilweise schmerzhaften Maßnahmen gegenzusteuern. Die Erfolgsfaktoren sind damals so aktuell wie heute: Deutschland verfügt über eine gute industrielle Basis – „old economy“ ist „future economy“. Das produzierende Gewerbe trägt rund ein Viertel zur Wirtschaftsleistung bei und nimmt damit im europäischen Vergleich eine führende Stellung ein. Produzenten, Zulieferer und Dienstleister sind über Jahre eng miteinander verflochten, bilden das „Netzwerk Industrie“. Es besteht eine ausgewogene Mischung aus Unternehmen industrieller Kernbranchen und Dienstleistern wie Forschung und Entwicklung, Beratung oder Marktforschung. Ihr Zusammenspiel hält den gesunden Kreislauf aus Innovation, Wachstum und Beschäftigung in Bewegung.
In den letzten Jahren haben die Unternehmen an ihrer Produktivität und Innovationskraft gearbeitet sowie in neue Produkte, Dienstleistungen und Prozesse, in neue Märkte und neue Kooperationen investiert. Gerade in Deutschland stark vertretene Branchen wie Automobil- und Maschinenbau, Chemie und Elektro haben sich enorm angestrengt und immer wieder neue Technologien integriert. So stiegen die Investitionen der Unternehmen in Forschung und Entwicklung innerhalb von zehn Jahren um beachtliche 40 Prozent auf geschätzte 50 Milliarden Euro im Jahr 2011. Selbst in der Krise 2008/ 2009 haben die Betriebe nicht an ihren Innovationsaufwendungen gespart. Der Erfolg auf den Weltmärkten gibt dieser Strategie heute recht. Ein Schlüssel zum Erfolg ist auch die positive Haltung zur Globalisierung. Die Unternehmen haben frühzeitig Märkte überall auf der Welt erschlossen – und schauen sich weiter um. Gerade in den dynamischen Wachstumsregionen Asiens, Lateinamerikas und Afrikas tun sich neue Potenziale auf, die die Unternehmen zunächst mit Vertriebsstrukturen und im Folgenden dann mit Produktionsstandorten erschließen.Wir haben in Deutschland einen einzigartigen Unternehmensmix, um den uns fast die ganze Welt beneidet: Es gibt erfolgreiche große Aktiengesellschaften, viele engagierte Kleinunternehmen und einen – im internationalen Vergleich – breiten Mittelstand, der sehr stark von Familienunternehmen geprägt ist. In Deutschland liegen 90 Prozent der Unternehmen in Familienhand, sie stellen 60 Prozent der Arbeitsplätze. Darunter viele „Hidden Champions“, die hoch innovativ und auf den Weltmärkten erfolgreich sind. Gerade diese Unternehmen denken nicht in Quartalsberichten, sondern längerfristig. Typische exportorientierte Mittelständler sind im Schnitt bereits auf 16 Auslandsmärkten aktiv. Vergleichbares „Think global – act local“ gibt es weltweit nicht.
Nicht zuletzt hat die Politik diese Entwicklungen unterstützt – mit guten Rahmenbedingungen, wie sie etwa auf dem Arbeitsmarkt geschaffen wurden. Die Tarifpartner haben über eine lange Zeit mit einer vernünftigen Lohnpolitik einen wichtigen Beitrag geleistet. Mittlerweile ist in Deutschland etwa jeder Zweite erwerbstätig – ein Rekordniveau.
Hat es Deutschland nun ein für alle Mal geschafft? Die Erfahrung zeigt: Wer sich auf Lorbeeren ausruht, verliert den Anschluss. Die demografische Entwicklung bereitet mir die größte Sorge. Die Entwicklung ist seit Jahren bekannt, aber nichts Entscheidendes wurde unternommen. Bald trifft uns der Bevölkerungsrückgang mit voller Wucht. Viele Unternehmen haben schon heute Schwierigkeiten, Stellen mit ausreichend qualifizierten Bewerbern zu besetzen. Der wichtigste „Rohstoff“ Deutschlands – qualifizierte und innovative Fachkräfte – wird knapp. Jeder dritte Betrieb sieht im Fachkräftemangel ein Risiko für seine Geschäftsentwicklung, und zwar bereits in den kommenden Monaten. Dieser Herausforderung müssen wir – das heißt Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam – mit klugen Ideen begegnen.
Das reicht von besserer schulischer Bildung über mehr Weiterbildung, die stärkere Beschäftigung Älterer und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie bis hin zu mehr Chancen für Menschen, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind oder kommen.
Schauen wir nach vorn: Unsere europäischen Nachbarn beginnen seit kurzem die Reformen durchzuführen, die die Bundesrepublik Deutschland bereits stark gemacht haben. Die europäischen Partner holen damit – zwar nicht von heute auf morgen, aber sicher mittelfristig – in Sachen Wettbewerbsfähigkeit auf: Irland hat das Renteneintrittsalter erhöht, Spanien eine Schuldenbremse verabschiedet. Italien hat seinen Arbeitsmarkt flexibilisiert, Portugal Feiertage gestrichen. Das sind nur einige wenige aktuelle Beispiele. Die Liste der Maßnahmen ist lang – und wird täglich länger. Das sollte uns hier in Deutschland anspornen, die Hände nicht in den Schoß zu legen.
Die genannten Reformen sind Teil des Kampfes gegen die Staatsschuldenkrise. Wir alle in Europa dürfen in diesen Bemühungen nicht nachlassen. Europa hat mit dem Nebeneinander von Sparen und Reformen sowie mit der Einigung auf den Fiskalpakt den richtigen Weg eingeschlagen. Wir sollten die Maßnahmen entschlossen weiter vorantreiben, und nicht ständig mit neuen Vorschlägen neue Unsicherheiten schaffen. Mittel- bis längerfristig ist eines entscheidend: verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Dies kann den Staaten Europas nur mit einer Politik der Wahrhaftigkeit gelingen – einer Politik, die den Bürgern ehrlich sagt, was sie kostet, einer Politik ohne neue Schulden.
Der 1965 in Malaysia geborene Autor ist promovierter Betriebswirt. Im Jahr 1990 stieg er ins Management der ALBA AG ein. Seit 1993 gehört er dem Vorstand der ALBA Group an, seit 2011 als Vorstandsvorsitzender. Dr. Eric Schweitzer ist seit März 2013 Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages DIHK.