Vierzig Prozent der Bevölkerung Afghanistans leben unterhalb des Existenzminimums. Jedes Jahr drängt eine Million junge Leute auf den Arbeitsmarkt. Diese Generation fordert eine Perspektive für die eigene Zukunft ein: eine Ausbildung, einen Arbeitsplatz und damit die Möglichkeit, eigenes Geld zu verdienen und vielleicht eine Familie gründen zu können. Eine Verbesserung der Wirtschaftslage ist daher entscheidend für ihre Zukunft – und zugleich eine langfristige Investition in den Frieden. In den vergangenen Jahren hat die afghanische Regierung mit internationaler Hilfe Weichen für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes gestellt. Dabei geht es vor allem darum, bei den öffentlichen und privaten Institutionen genügend Kapazitäten für eine marktwirtschaftlich orientierte Wirtschaftspolitik aufzubauen.
Markt mit Risiken, aber auch mit Chancen. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH unterstützt das Land am Hindukusch seit 2002 im Auftrag der Bundesregierung dabei, nachhaltige Wirtschaftsentwicklung zu fördern – hier vor allem für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), aber auch für andere nationale und internationale Auftraggeber. Das Ziel: private Unternehmen in Afghanistan zu stärken, damit sie die Qualität ihrer Produkte verbessern, höhere Einkommen erzielen und neue Arbeitsplätze schaffen können. Mit Aus- und Fortbildungsangeboten trägt die GIZ zudem dazu bei, dass es qualifiziertes Fachpersonal auf dem Arbeitsmarkt gibt. Und auch der Bau von Straßen und Brücken, der Aufbau der Trinkwasser- und Energieversorgung, die Ausbildung von Lehrkräften für Grund- und Berufsschulen, der Aufbau der zivilen Luftfahrt, die Förderung von Frauen und Rechtsstaatlichkeit tragen zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes bei.
Gerade Dienstleistungen zum Wiederaufbau der Infrastruktur sind heute in Afghanistan stark nachgefragt. So konnten sich darauf spezialisierte kleine industrielle Zentren bereits in den vergleichsweise stabilen Regionen wie dem Norden und Westen des Landes entwickeln. Heute sind etwa 45 deutsche oder deutsch-afghanische Unternehmen im Land registriert. Sie investieren vor allem in den Sektoren Bau, Energie, Infrastruktur, aber auch in Medizintechnik, Telekommunikation und Consulting. Dabei hat Afghanistan einen großen Reichtum an natürlichen Ressourcen zu bieten, darunter weltweit nachgefragte Rohstoffe wie Eisen, Kupfer, Gold, Edelsteine und Marmor sowie Früchte, Nüsse, Seide, Teppiche oder Kaschmir-Wolle. Der Bedarf an ausländischen Investitionen und Know-how ist groß, zum Beispiel, um die enormen Rohstoffvorkommen zu erschließen, die dem Land langfristig hohe Einnahmen ermöglichen könnten. Im Zuge des Wiederaufbaus wächst zudem stetig die Nachfrage nach Baumaterialien, Maschinen und moderner Technologie zur Energiegewinnung.
Perspektiven schaffen. Achtzig Prozent der afghanischen Bevölkerung leben heute in ländlichen Gebieten – dort fehlt es an Straßen, Ärzten, Schulen, sauberem Trinkwasser und Energie. Familien haben wenige Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Deshalb unterstützen unsere Experten die afghanische Regierung dabei, die Lebensbedingungen und das Einkommen der ländlichen Bevölkerung sowie die Basisdienstleistungen des Staates zu verbessern. Mit Erfolg: Seit 2003 wurden bereits 320.000 Menschen erreicht. Sie können auf befestigten Straßen ihre Waren auf den Markt transportieren, nutzen Strom zur Verarbeitung von Waren und trinken sauberes Wasser, das sie und ihre Kinder nicht krank macht. Seitdem sie ihre Felder bewässern, steigen ihre Ernteerträge. Familien erzielen durch harte Arbeit im Straßenbau zeitweilig ein Einkommen, mit dem sie Saatgut und Nahrungsmittel erwerben. Eine Anschubfinanzierung ermöglicht Frauen und Männern, ein kleines Gewerbe aufzubauen. Diese breit angelegten Entwicklungsprozesse regen die regionalen Wirtschaftskreisläufe an, sichern Lebensgrundlagen und schaffen Zukunftsperspektiven.
Wertschöpfung fördern. Exporte machen derzeit nur vier Prozent der Wirtschaftsleistung Afghanistans aus. Dabei war das Land in den 1970er Jahren einer der führenden Anbieter für Trockenfrüchte und Teppiche. An diese Tradition lässt sich anknüpfen: Im Jahr 2010 hat die GIZ 120 Händler aus den nördlichen Provinzen im Sortieren und Klassifizieren von Trockenfrüchten geschult; weitere haben gelernt, mit Öl-Pressen zu arbeiten. Diese neuen Fertigkeiten sowie eine neue Verpackungsmaschine für Trockenfrüchte und Nüsse erhöhen den Wert der Produkte um nahezu die Hälfte. Um die afghanische Teppichindustrie wieder aufleben zu lassen, wurden im Jahr 2010 600 Frauen in den Provinzen Jawzan und Balkh darin geschult, Wolle zu spinnen und über 450 Frauen lernten das Weben von Teppichen. Sie alle haben Arbeitsstellen gefunden. Außerdem wurden 15 Teppichdesigner in der Provinz Balkh in der Anwendung einer modernen Software für Teppichdesign geschult. Dies stärkt ihre Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Markt.
Privatsektor braucht starke Institutionen und Fachkräfte. Bei den Exporten erzielte Afghanistan in den vergangenen Jahren teilweise Wachstumsraten von über zehn Prozent. Dazu hat auch die afghanische Exportförderagentur beigetragen, deren Aufbau wir unterstützt haben. Mit Marktanalysen, Ausstellungen und Marketing hilft die EPAA Unternehmen, neue Märkte in der Region, in Europa und Amerika zu erschließen. Diese Rechnung geht auf: Afghanistan präsentierte sich 2011 auf der weltgrößten Agrarmesse, der „Internationalen Grünen Woche“ in Berlin. Die Messebesucher überzeugten sich von der Qualität der vorgestellten Produkte, zum Beispiel Rosenöl, Walnussöl, getrocknete Aprikosen, Maulbeeren und edle Seidenschals, und bestellten die afghanische Ware. Seit März 2011 bietet die EPAA einen „One Stop Shop“ für den grenzüberschreitenden Handel. In- und ausländische Händler können Informationen und Dokumente für ihre Exportprodukte an einer zentralen Anlaufstelle bekommen – zuvor mussten sie ein Dutzend Stellen aufsuchen.
Eine wesentliche Stütze für den Privatsektor ist zudem die Afghanische Industrie- und Handelskammer (ACCI), die auf eine 80-jährige Geschichte zurückblickt. Sie hat sich ab 2002 mithilfe der GIZ neu aufgestellt. Heute ist sie eine Spitzenorganisation der afghanischen Wirtschaft mit 21 Provinzkammern und 10.000 Mitgliedern. Die regionalen Kammern beginnen, die Bedürfnisse der Unternehmer aufzunehmen und ihnen Serviceleistungen anzubieten, zum Beispiel Fortbildungen oder Hilfen bei der Erstellung von Geschäftsplänen. Im April 2011 fand erstmals die „Balkh Business Fair“ statt: 75 Hersteller und Händler haben innerhalb von drei Tagen Produkte im Wert von 34.000 US-Dollar verkauft und Vorbestellungen im Wert von 400.000 USDollar aufgenommen. Die ACCI organisiert außerdem Kooperations- und Kontaktbörsen für ausländische und afghanische Unternehmen.
Damit Unternehmen in Zukunft genügend Fachkräfte einstellen können, unterstützten wir das afghanische Bildungsministerium im Auftrag des BMZ und des Auswärtigen Amtes bei der Reform der beruflichen Bildung.
Jugendliche in ausgewählten Berufsschulen erhalten eine gewerblich-technische Ausbildung, die ihnen nachhaltige Erwerbsmöglichkeiten eröffnet. In Kabul und den Provinzhauptstädten im Norden und Nordosten sind Ausbildungszentren für Berufsschullehrer/-innen eröffnet worden, um Jugendliche praxisnah und nach einheitlichen Standards ausbilden zu können.
Partner für interessierte Unternehmen. Für interessierte deutsche Unternehmen arbeitet die GIZ in enger Abstimmung mit der deutschen Botschaft in Kabul als Anlaufstelle zusammen. Wir unterstützen Maßnahmen wie den von der Bundesregierung organisierten Runden Tisch in Berlin zur Wirtschaftskooperation mit Afghanistan und führen Delegationsreisen für deutsche Unternehmer durch. Auch der im Juni 2011 erschienene Wirtschaftsleitfaden von Germany Trade and Invest (GTAI) wurde im Auftrag des BMZ mit erarbeitet. Dieser bewertet Potenziale in verschiedenen Sektoren und informiert über Unternehmensgründungen und Rahmenbedingungen in Afghanistan. Um deutschen und europäischen Unternehmen eine individuelle Unterstützung zu bieten, führen wir auch Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft durch. Dabei stellen unsere Experten ihre lokalen Kontakte, Länderkenntnisse und ihr fachliches Know-how zur Verfügung, damit Unternehmen den Schritt in diesen herausfordernden Markt wagen können. Denn Afghanistan braucht eine wirtschaftliche Entwicklung, um seiner Bevölkerung eine Zukunft geben zu können.
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Der Autor war als Landesbeauftragter und Projektberater der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ägypten für die arabischen Länder/Nordafrika zuständig. 1981 wechselte er nach Brasilien, um in gleicher Funktion tätig zu sein. 1993 kam Dr. Eisenblätter als Leiter des Bereichs Lateinamerika und Maghreb zur GTZ. Ab 1996 war er Geschäftsführer der GTZ, seit 2011 ist er Vorstandssprecher der GIZ.