Wir sind uns auf allen Seiten darüber einig, dass die meisten europäischen Staaten Reformen angehen müssen. Diese Reformen können aber nur dann sinnvoll greifen, ohne die Menschen zu überfordern und die Wirtschaft nachhaltig zu schädigen, wenn sie mit Konjunkturanreizen unterlegt sind. Solche Konjunkturmaßnahmen sind nicht zwangsläufig mit Staatsausgaben gleichzusetzen. Zunächst genügt es, die Sparpakete zu beenden und auf dem jetzigen Stand innezuhalten. Die immer neuen Maßnahmen, Steuern, Vorschriften und Änderungen der Gesetze sind aktuell das größte Problem der europäischen Wirtschaft. Eine IWF-Studie befasste sich mit der Frage, was die Grundlagen seien, warum der eine Staat im Laufe der Zeit erfolgreich wird, der andere jedoch zurückbleibt. Ist es wichtig, dass dieser Staat über viele Rohstoffe verfügt? Ist es die gute geographische Lage an internationalen Gewässern und Handelswegen, ist es ein bevorzugtes Klima oder sind es ertragreiche Böden? Die Schweiz beweist eindrucksvoll, dass diese Parameter nicht entscheidend sein können. Was ist es also, das die Schweiz und viele andere Staaten langfristig erfolgreich macht? Es ist die Rechts- und Planungssicherheit für Unternehmer. Wer ein Unternehmen welcher Art auch immer plant, sei es ein Blumengeschäft oder einen Chemiekonzern, der muss einen halbwegs verlässlichen Geschäftsplan erstellen können. Er muss sicher sein, dass dieses Grundstück, das er jetzt kauft, ihm auch dauerhaft gehören wird, ohne dass man ihn in zwei Jahren nach einem Regierungswechsel enteignet. Er muss wissen, dass die Arbeitsgesetze, zu denen er heute Mitarbeiter einstellt, im Wesentlichen auch in den nächsten Jahren Bestand haben werden. Er muss wissen, welche Steuersätze und Abgaben ihn in den nächsten Jahren erwarten. Es wird auch da immer zu Änderungen und damit zu gewissen Unwägbarkeiten in der Unternehmensplanung kommen. Aber je sicherer ein Unternehmer planen kann, umso wahrscheinlicher ist es, dass er das Risiko auf sich nimmt. Ansonsten geht er, wenn es sich bei ihm um einen internationalen Konzern handelt, lieber in ein Land, in dem er besser planen kann. Ist er der Blumenverkäufer, lässt er es lieber ganz sein, einen Kredit aufzunehmen, um ein kleines Geschäft aufzubauen.
Diese absolute Rechts- und Planungssicherheit ist der große Vorteil der Schweiz. Selbst in Deutschland ist diese Planungssicherheit oft nicht ausreichend gegeben. Die Energieerzeuger können davon aktuell ein Lied singen. Erst kommt die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke, kurz darauf der komplette Ausstieg aus der Atomkraft. Für die Planungssicherheit von Unternehmen gleicht das einer Katastrophe. Ähnliches gilt aktuell für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Zu den Haupthindernissen gehört eine unkalkulierbare politische Agenda mit immer neuen Stoßrichtungen. Wenn ein Unternehmen sich nicht verlässlich auf ein Szenario einstellen kann, wird es Investitionen nicht tätigen, und das bremst die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft. Für einen Unternehmer in Spanien oder Italien ist vollkommen ungewiss, welche Steuern morgen neu erhoben und welche Gesetze aus dem Hut gezaubert werden. In Griechenland kann ein Unternehmer ja noch nicht einmal verlässlich planen, mit welcher Währung er in einem Jahr bezahlen wird. Diese Ungewissheit und das völlige Fehlen jeglicher Planungssicherheit sind das größte Hindernis auf dem Weg zu einer Erholung der europäischen Wirtschaft. Wenn dann noch ein Politiker wie Silvio Berlusconi im Vorfeld von Wahlen verspricht, alle bisherigen Maßnahmen über den Haufen zu werfen und getroffene Entscheidungen sogar rückwirkend zu verändern, ist das das exakte Gegenteil von dem, was eine Wirtschaft braucht. Wir bräuchten dringend einen europäischen Masterplan, der für jeden Staat klar definiert, welche Reformen in den nächsten fünf Jahren anstehen, wie diese aussehen und in welchen Zeitabschnitten sie umgesetzt werden. Die Unternehmen müssen sicher sein können, dass darüber hinaus keine umwälzenden Veränderungen vorgenommen werden. Das wäre das Mindestmaß an Planungssicherheit, die ein Unternehmen, welcher Größe auch immer, benötigt. Dazu gehört ein klares Bekenntnis der europäischen Staaten dazu, wie das europäische Gebilde in Zukunft aussehen wird. Wir haben Politiker, die sich aus Angst vor den nächsten Wahlen nicht trauen, eine klare Perspektive für Europa zu zeichnen. Ganz gleich, wie diese Perspektive aussieht, die Menschen und die Wirtschaft könnten sich auf alles einstellen, aber wir brauchen Politiker, die mutig genug sind, mit ihren Kollegen in den anderen europäischen Staaten eine gemeinsame Vision von einem zukünftigen Europa so detailliert wie möglich zu definieren und ihre Bevölkerung auf diesen gemeinsamen Weg einzuschwören. Wir brauchen ein Narrativ. Die Entscheidung der europäischen Staaten zu einem solchen gemeinsamen europäischen Masterplan wie auch die Festlegung der südeuropäischen Staaten auf eine klare Reformagenda für die nächsten fünf Jahre kosten keinen Euro Staatsausgaben, sie wären aber ein wesentlicher Anschubfaktor für Investoren in ganz Europa. Die rechtliche, fiskalische und politische Planungssicherheit bilden die erste Grundlage für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Was wir aufgrund der extremen wirtschaftlichen Verwerfungen darüber hinaus dringend brauchen, sind weitere konjunkturelle Beschleuniger. Die wirkungsvollste Maßnahme, eine Wirtschaftsbelebung auf breiter Basis zu erzeugen, sind Investitionen in die Infrastruktur. Die USA erlebten zwei große wirtschaftliche Schübe, die entscheidend für den Aufstieg der USA waren. Die Investitionen in die Infrastruktur Eisenbahn brachte im 19. Jahrhundert den ersten echten Wohlstandsschub über das breite Amerika. In den 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts wiederholte sich dieses Phänomen durch den Bau der großen Interstate Highways.
Es gibt nichts, mit dem man eine Volkswirtschaft besser ankurbeln könnte als mit Investitionen in eine neue Infrastruktur. Nichts steigert den Wert einer Volkswirtschaft so sehr wie eben jene neue Infrastruktur. Es ist eben ein Unterschied, ob ein Staat Geld für Sozialhilfe ausgibt, das in der Bevölkerung zerfließt, ohne einen langfristigen Mehrwert zu schaffen und im nächsten Jahr die gleichen Zahlungen erneut erfordert, oder ob ein Staat Geld ausgibt und damit Infrastruktur schafft, die weitere Investitionen anzieht und auf lange Zeit das Volksvermögen (Kapitalstock) steigert. Europa bräuchte dringend Investitionen in moderne Infrastruktur. Von einer modernen Energieversorgung über Glasfaserleitungen bis hin zu unabhängigen Serverfarmen. Während die Staaten aufgrund ihrer Schuldenlast keinerlei Spielraum haben, sitzen die privaten Haushalte auch via Lebensversicherungen auf Geldvermögen in Billionenhöhe. Was liegt näher, als diese Gelder zu aktivieren und zur Errichtung von Infrastruktur in Form von Eigenkapital zu aktivieren? Versicherungsunternehmen würden bereits heute gerne in solche Projekte investieren, dürfen es aufgrund der Vorgaben aus Solvency und Basel jedoch nur in geringem Umfang. Hier könnten Infrastrukturfonds den Ausweg bilden. Von privaten Banken aufgelegte Fonds, die klaren Vorgaben für sinnvolle Infrastrukturprojekte entsprechen und von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften zertifiziert werden. Die Einzahlungen – nicht die Erträge – in diese Fonds müssten eine staatliche Garantie erhalten um den Eigenkapitalvorschriften und den Sicherheitsbedürfnissen der privaten Anleger zur Altersvorsorge gerecht zu werden. Die Garantie wäre für den Staat ohne Risiko, da eine Sachdeckung durch Infrastruktur gegeben wäre. Die marktwirtschaftliche Steuerung bliebe erhalten, da die privaten Banken die Fonds aufstellen und die Anleger/Versicherer nur in die aussichtsreichsten Projekte investieren würden, die miteinander in Konkurrenz um diese Gelder stehen. Auf diese Weise würde Geldvermögen in Sachvermögen gewandelt. Ein jahrzehntelanger Wirtschaftsboom würde Realität, während dem die Staaten aufgrund der Steuereinnahmen in der Lage wären ihre Schulden zu reduzieren und gleichzeitig die notwendigen Strukturreformen umzusetzen. Wir müssen umdenken und unsere Investitionen auf Basis von Eigenkapital statt Fremdkapital errichten. Nur so ist der Kreislauf immer neuer Schulden und damit verbundener Probleme zu durchbrechen.
Das „Gesicht der Börse“ begann nach einer Bankausbildung 1992 an der Frankfurter Börse. Seine Bücher über die Weltfinanzkrise Crashkurs (2009) und Cashkurs – ein umfassender Finanzratgeber für Einsteiger und Fortgeschrittene (2011) waren Bestseller. Dirk Müllers jüngstes Werk heißt „Showdown – Der Kampf um Europa und unser Geld“.