Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Erde. Es ist Schwerpunktland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Zehn Jahre sind seit dem Sturz der Taliban vergangen. Seither hat sich viel getan in dem durch Jahrzehnte des Krieges zerrissenen Land am Hindukusch. Doch ungeachtet der erkennbaren Fortschritte zeigt sich im täglichen Leben noch immer die Armut der Menschen und die Unzulänglichkeit der Infrastruktur in allen Bereichen. Dies macht deutlich, dass die Arbeit in Afghanistan noch nicht beendet ist.
Nur wenige Monate nach dem Ende der Taliban-Herrschaft begann die Bundesrepublik Deutschland mit ersten Aufbaumaßnahmen. Energie- und Trinkwasserversorgung standen hierbei im Vordergrund. Wasser als eine der unverzichtbaren Grundlagen des Lebens und eine ausreichende Energieversorgung sind zentrale Voraussetzungen für die Entwicklung eines Landes. Später kamen weitere Bereiche hinzu. Die Unterstützung „guter Regierungsführung“ gehört zu diesen neueren Sektoren. Sie umfasst besonders die Förderung der Rechtsstaatlichkeit mit Stärkung der Justiz, Rechtsaufklärung und Rechtshilfe. Einher gehen diese Maßnahmen mit der Polizeiausbildung durch deutsche Polizeiprojektteams im Norden des Landes. Ein zentrales Ziel dieser Unterstützung sind die Bekämpfung der Korruption und der Schutz der Menschenrechte. Eine verbesserte Grund- und Berufsbildung sowie die Förderung einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung, besonders unter dem Blickwinkel der Schaffung von Einkommensmöglichkeiten für eine stetig wachsende junge Bevölkerung, bilden weitere Schwerpunkte der deutsch-afghanischen Entwicklungszusammenarbeit.
Gleich zu Beginn der Aufbaumaßnahmen und nur ein paar Monate nach Wiederaufnahme der bilateralen Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland konnte sich das Stuttgarter Ingenieurunternehmen Fichtner erfolgreich mit zwei Säulen seines Kerngeschäfts, Energie sowie Wasser & Infrastruktur, in verschiedenen für das Land so lebensnotwendigen Projekten etablieren. Im Jahr 2002 begann ein Projekt zur Sanierung und Erweiterung von städtischen Trinkwasserversorgungssystemen durch ein internationales Konsortium unter der Federführung von Fichtner Water & Transportation GmbH (damals noch Beller Consult GmbH). Hierbei wurden insgesamt 22 Städte mit einer Gesamteinwohnerzahl von etwa drei Millionen Menschen in das Programm aufgenommen. Seitdem hat Fichtner ununterbrochen die verschiedensten Trinkwasserprojekte bearbeitet und realisiert, zumeist finanziert durch die Bundesrepublik über die bundeseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau, KfW.
Zurzeit werden mit verschiedenen Aufträgen Projekte für Versorgungseinrichtungen in Kabul und in mehreren Städten der Nordprovinzen durchgeführt. Trotz dieser Projekte des zivilen Aufbaus bleibt der Zugang zu sauberem Leitungswasser ein noch unerfüllter Wunsch für viele Afghanen. Noch immer steht in Kabul nur etwa einem Drittel und im Rest des Landes nur rund einem Fünftel der Bevölkerung sauberes Trinkwasser zur Verfügung. Besonders die Landbevölkerung ist auf Wasser aus Brunnen und fließenden Gewässern angewiesen. Durch undichte Sickergruben sowie in Gewässer und Böden eingebrachte Abwässer und Abfälle ist das Wasser jedoch häufig stark verunreinigt. Die daraus resultierenden Krankheiten führen zu einer hohen Kindersterblichkeit und beeinträchtigen die Entwicklung des Landes.
Auch bei der Energieversorgung der Bevölkerung gibt es noch viel zu tun: In den Städten des Landes hat auch heute nur rund ein Viertel der Einwohner Zugang zu Elektrizität, im ländlichen Bereich liegt der Anteil mit geschätzten 15 Prozent noch wesentlich niedriger. Im Jahr 2005 begann für die Fichtner GmbH & Co. KG das erste Energieprojekt in Afghanistan: Der Auftrag für die Machbarkeitsstudie des 280-Megawatt-Wasserkraftwerks Baghdara, 70 Kilometer nordöstlich von Kabul, wurde begonnen, aber nur bis zur Projektdefinition fertiggestellt. Nachdem das Projekt fast vier Jahre blockiert war, sind seit kurzer Zeit Bemühungen der Vertragspartner im Gange, diese für die Energieversorgung Afghanistans so wichtige Studie weiterzuführen und zum Abschluss zu bringen. Daneben wurde Fichtner mit verschiedensten Aufgaben bei Wasserkraftwerken aller Größen beauftragt sowie mit der Planung von Bewässerungsprojekten und zur Reparatur und Instandsetzung von Dämmen. Dabei wurde das gesamte Leistungsspektrum abverlangt, von ersten Machbarkeitsstudien bis hin zu Ausschreibungen, Bauüberwachungen und Inbetriebnahmen. Aktuell arbeitet Fichtner an mehreren kleinen und mittleren Wasserkraftwerken im Norden des Landes. Es sind fast alles ältere Anlagen, zumeist sowjetischer Bauart, die durch jahrzehntelange Kriegseinflüsse und Mangel an Unterhaltung schwer gelitten haben. Hier gilt es nun, wenn irgend möglich und ökonomisch vertretbar, sie wieder aufzubauen und zu modernisieren. In Afghanistan selbst gibt es nur unzureichende eigene Energieerzeugung. Das Land verfügt über keine nennenswerten erschlossenen Vorkommen an fossilen Brennstoffen und ist im höchsten Maße auf den Energieimport aus Nachbarländern angewiesen. Darum werden, vor allem von der Bundesrepublik Deutschland, unter den unterschiedlichsten Programmen regenerative Energien gefördert. Das Potenzial an Wasserkraft, gerade in den gebirgsreichen Regionen, gilt es, nutzbar zu machen. Daneben gibt es kleinere, dezentrale Projekte der Windenergie und der Fotovoltaik sowie im ländlichen Bereich auf Dorfebene Anstrengungen der Biogaserzeugung.
Es reicht allerdings nicht aus, Energie zu erzeugen oder zu importieren, sie muss auch transportiert und zu den Menschen gebracht werden. Im Oktober 2010 erhielt Fichtner GmbH & Co. KG den Auftrag, sieben Städte in den Nordprovinzen mit Strom zu versorgen.
Von ersten Planungen über die Durchführung der Ausschreibungen und der Bauaufsicht bis hin zu Abnahmen und Inbetriebnahme wird hier wieder die gesamte Wertschöpfungskette von Beginn bis Ende der Maßnahme erbracht. Das Projekt North Eastern Power Supply (NEPS) ist äußerst vielschichtig. Zum einen beinhaltet es den Bau von verschiedenen 20-Kilovolt-Hochspannungsleitungen mit einer Gesamtlänge von annähernd 100 Kilometern. Zum anderen sind die Ortsnetze in den Städten bis hin zu den Hausanschlüssen zu erstellen. Bei den sieben Städten handelt es sich unter anderem um die Hauptstadt der Provinz Balkh, Mazar-e Sharif – das wirtschaftliche Zentrum Nordafghanistans –, aber auch um kleine Ortschaften in den Schluchten des Hindukuschs bis hin zu langgezogenen Ansammlungen von Dörfern in fruchtbaren Tälern kurz vor der Wasserscheide des Hindukuschs nach Süden.
Über diese von der internationalen Staatengemeinschaft finanzierten Projekte hinaus sieht man besonders in Mazar-e Sharif den Aufschwung an jeder Straßenecke. Überall entstehen neue Gebäude. Im Umland sind die Ziegeleien mit ihren Hoffmann’schen Ringöfen Tag und Nacht in Betrieb. In alten Brennöfen wird wie zu Zeiten Alexanders des Großen der Kalk aus Marmorbrocken gebrannt.
Neben der Aufzählung und Darstellung von Projekteinzelheiten soll hier aber auch dargestellt werden, wie so ein Projekt in diesem Land, von dem man in Deutschland immer Schreckensnachrichten über Krieg, Tod und Sprengfallen hört, von den Menschen vor Ort durchgeführt werden kann. Für mich als Resident Manager der Fichtner GmbH & Co. KG in Mazar-e Sharif ist natürlich die Sicherheit aller Mitarbeiter, ob international oder national, ein erstes Anliegen und hat Vorrang vor allen technischen und kaufmännischen Belangen. So manche Lebensumstände sind hier anders, als viele es aus anderen, ruhigeren Ländern gewohnt sind. Auch ich musste mich nach 36 Jahren des Arbeitens im Ausland, vorwiegend in arabischen und asiatischen Ländern, erst an die Spielregeln gewöhnen.
Im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat die GTZ (jetzt GIZ) ein Risikomanagementsystem aufgebaut, das in allen Einsatzgebieten der Organisationen der staatlichen deutschen Aufbauhilfe präsent ist.
Durch das Risikomanagement soll gewährleistet werden, dass alle Mitarbeiter in größtmöglicher Sicherheit leben und arbeiten können. Damit dieses Sicherheitssystem greifen kann, müssen natürlich feste Regeln befolgt werden, die zum Teil tief in die Privatsphäre und die Gestaltung des Arbeitsablaufes eingreifen. So werden private Überlandfahrten aus nachvollziehbaren Sicherheitserwägungen nur äußerst selten genehmigt. Auch die in vielen arabischen Ländern so beliebten abendlichen Streifzüge durch die Altstadt mit ihren Bazaren, Souks und architektonischen Kleinoden, wie ich sie mehrmals in der Woche bei meinem letzten Projekt, dem Solarkraftwerk Ain Beni Mathar in Marokko, unternommen habe, muss ich mir hier verkneifen. Besorgungen in der Stadt sind auf das Notwendigste zu beschränken und auch nur in Begleitung zu unternehmen. Alle lokalen Mitarbeiter werden einer Überprüfung unterzogen und Fahrer und Wachleute bekommen eine Einweisung in ihre Pflichten. Zum Glück ist es im Norden des Landes und insbesondere im Bereich von Mazar-e Sharif relativ ruhig. Die Freizeitmöglichkeiten beschränken sich dennoch vorwiegend auf den Bereich des Wohnhauses. Selbstverständlich kann nicht jeder mit dieser doch manchmal einschneidenden Beschränkung der persönlichen Freiheit umgehen. Doch im Sinne der eigenen Sicherheit, der von Kollegen sowie des gesamten Projekts ist es unerlässlich, diese Regeln zu befolgen. Die Bereitschaft dazu muss man bei einer Tätigkeit in Afghanistan mitbringen.
Generell kann ich jedoch nach meinen bisherigen, doch relativ häufigen Treffen mit Mitgliedern der Ältestenräte in den verschiedenen Ortschaften unseres Projekts sowie mit Jung und Alt der Bevölkerung auf dem einen oder anderen Marktplatz nur positiv von diesen Begegnungen berichten. Gastfreundschaft, Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft begegnen einem allenthalben. Dass man bei solchen Besuchen die elementaren Regeln einer konservativen islamischen Gesellschaft und der zentralasiatischen Kultur befolgt, sollte für jeden Fremden, der als Gast kommt, eine Selbstverständlichkeit sein.
Es bleibt zu wünschen, dass sich der noch sehr zerbrechliche Frieden des Nordens stabilisiert und auch die anderen Provinzen erreicht, sodass sich das Land in Ruhe entwickeln kann.
Der Autor verfügt über 36 Jahre Erfahrung im Management von großen internationalen Bauprojekten. Er war in nahezu allen arabischen Staaten sowie für Großprojekte in China und Südostasien tätig. Für die Fichtner GmbH & Co. KG war Dirk Drewes als Site Manager des thermosolaren Hybridkraftwerks Ain Beni Mathar in Marokko und ist seit 2010 als Resident Manager in Mazar-e Sharif, Afghanistan, tätig.