Von der Erforschung eines Wirkstoffs bis zum marktfähigen Medikament ist es ein langer Weg voller Herausforderungen. Denn damit eine Substanz als Wirkstoff taugt, muss sie eine außergewöhnliche Kombination von Eigenschaften mitbringen.
Medikamente haben die Lebenserwartung und Lebensqualität der Deutschen enorm verbessert. Trotzdem werden neue Medikamente dringend gebraucht, denn vielen Patientinnen und Patienten kann noch nicht angemessen geholfen werden. Der Gesundheitsstatus der Bevölkerung ist darüber hinaus für die Produktivität – gerade einer älter werdenden Gesellschaft – von großer Bedeutung. Für die Volkswirtschaft ist der Export von Arzneimitteln weltweit ein entscheidender Wirtschaftsfaktor. Wirksame Arzneimittel produzieren heißt: Es werden Werte geschaffen. Das Wissen über Arzneimittel und Patientenversorgung ist in der Wissensgesellschaft der Rohstoff für Deutschland im internationalen Wettbewerb. Ein neues Medikament zu entwickeln ist ein komplexes Projekt ohne Erfolgsgarantie, das selbst bei gutem Verlauf selten kürzer als 13 Jahre dauert. Fachleute mit unterschiedlichster Expertise – Medizin, Chemie, Pharmazie, Ingenieurswesen, Informatik, Patentwesen und so weiter – müssen dazu beitragen.
Deutschland ist nach wie vor eins der führenden Länder für die Erfindung neuer Medikamente, dank Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen von deutschen wie ausländischen Unternehmen. Aber kein Medikament entsteht heute noch in einem Land allein. Und was fertig entwickelt ist, ist immer gleich für den Weltmarkt bestimmt.
Vor dem Start jedes Arzneimittelprojekts stehen Fragen wie diese: Bei welchen Krankheiten besteht dringender Bedarf für neue Medikamente? Gibt es neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung darüber, wo man wirksamer als bisher in den Krankheitsverlauf eingreifen könnte? Oder lässt sich ein Medikament finden, das weniger Nebenwirkungen hat als die bisherigen? Würden Krankenversicherungen oder Patienten für ein solches Medikament zahlen, wenn es gelingt?
Fallen die Antworten positiv aus, beginnt ein Prozess aus vielen hundert Einzelschritten. Zentraler Bestandteil jedes Medikaments ist sein Wirkstoff. Manchmal kann das eine Substanz sein, die dem Patienten fehlt – wie ein Gerinnungsfaktor bei Hämophilie-Patienten. In den meisten Fällen müssen Pharmaforscher aber erst einmal eine Stelle im Krankheitsgeschehen finden, an der ein Wirkstoff eingreifen könnte. Meist finden Unternehmen Hinweise darauf in der Forschungsliteratur. In anderen Fällen berichten ihnen kooperierende Forschergruppen davon. Das macht deutlich, wie groß die Bedeutung eines Umfelds mit akademischer Forschung auf Weltklasseniveau für die Firmen ist. Deutschland hat auch hier viel zu bieten. Ist ein sinnvoller Angriffspunkt gefunden, muss ein Wirkstoff geschaffen werden, der imstande ist, darauf einzuwirken. So etwas gelingt zwar nicht am „Reißbrett“, doch haben Pharmaforscher andere Wege zum Ziel. So können sie beispielsweise aus einer großen Sammlung chemischer und aus der Natur gewonnener Substanzen diejenigen ermitteln, die zumindest eine geringe Wirkung zeigen. Von diesen ausgehend, erarbeiten die Forschungsteams dann den eigentlichen Wirkstoff, indem sie immer wieder Atome ergänzen oder weglassen.
Gentechnische Wirkstoffe entwickeln Pharmaforscher hingegen meist, indem sie von einem menschlichen Protein ausgehen, das sie dann in medizinisch geeigneter Weise abwandeln. Schließlich wird dann ein Gen zu seiner Herstellung in Zellen eingeschleust, die sich in großen Stahltanks gut vermehren lassen; dort stellen sie den Wirkstoff dann in großen Mengen her.
Der endgültige Wirkstoff muss nicht nur an der richtigen Stelle in den Krankheitsvorgang eingreifen, er muss auch andere gute Eigenschaften haben: Er sollte im Körper möglichst nur an der gewünschten Stelle wirken und nicht auch viele andere Moleküle beeinflussen. Er muss – wenn er als Tablette eingenommen werden soll – den Weg aus dem Darm bis zu der Stelle, an der er wirken soll, unbeschadet zurücklegen können.
Sieht ein Wirkstoffkandidat aussichtsreich aus, wird er zum Patent angemeldet. Ehe er am Menschen erprobt werden kann, muss er noch ein rigoroses Testprogramm absolvieren, bei dem insbesondere überprüft wird, dass die neue Substanz nicht giftig, krebserregend oder in anderer Weise schädlich ist. Dazu dienen Tests im Reagenzglas, mit Zellkulturen und mit Tieren. Nur Wirkstoffkandidaten, die sich hier bewähren, kommen für eine weitere Erprobung in Betracht, alle anderen werden ausgemustert.
Die Erprobung mit Menschen, die klinische Entwicklung, gliedert sich in drei Phasen: Erprobung mit wenigen Gesunden (Phase I), Erprobung mit wenigen Kranken (Phase II) und Erprobung mit vielen Kranken (Phase III). Die klinische Entwicklung ist der aufwändigste und kostenintensivste Teil der Medikamentenentwicklung: Bis zu mehrere zehntausend Patienten in vielen hundert Kliniken in der ganzen Welt sind daran beteiligt. Deutsche Kliniken spielen dabei eine große Rolle; tatsächlich ist Deutschland sogar weltweit das zweitaktivste Land – nach den USA – wenn es um die Beteiligung an Industrie-initiierten klinischen Studien geht.
Waren alle Studien und Tests erfolgreich, kann das Unternehmen bei der Arzneimittelagentur der EU, der EMA, und weiteren Arzneimittelbehörden weltweit die Zulassung für das Medikament beantragen.
Nach der EU-Zulassung hat das Unternehmen das Recht, sein neues Medikament in Deutschland unverzüglich auf den Markt zu bringen, so dass es Ärzten und Patienten zur Verfügung steht. Das allerdings kann es nur, wenn es während die klinische Erprobung noch lief, auch die Hightech-Anlage für die Massenproduktion fertiggestellt hat. Und wenn es eine ausgeklügelte Logistik aufgebaut hat, die das Medikament von dort zu den Patientinnen und Patienten weltweit bringt. Deutschland konnte sich in den letzten Jahren mehrfach firmenintern gegen andere Länder als Produktionsstandort für Innovationen durchsetzen; etwa für gentechnische Medikamente oder neuartige synthetische Gerinnungshemmer. Doch ist der Standortwettbewerb äußerst scharf, gerade auch durch Lohnfertiger in Schwellenländern, die sich ebenfalls ständig technisch verbessern. Firma und Krankenkassen verhandeln nach der Markteinführung über den Betrag, den die Kassen für das Mittel erstatten (wofür sie sich unter anderem auf die Ergebnisse einer Nutzenbewertung für das Medikament stützen). In all den Jahren der Entwicklung eines Medikaments haben sich nur Kosten aufsummiert. Erst nach der Markteinführung kann das Unternehmen diese Kosten so lange wieder einspielen, bis der Patentschutz erlischt und Nachahmerfirmen eigene Versionen des Medikaments herausbringen können.
Die Autorin ist seit Mai 2011 Hauptgeschäftsführerin im Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa). Von 1998 bis 2002 war sie Ministerin für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit und von 2002 bis 2005 Ministerin für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Nordrhein-Westfalen. Darüber hinaus war Birgit Fischer von 2010 bis April 2011 Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK.